Kapitel 3 - Léon

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"Ruhe im Gerichtsaal, sonst lasse ich den Saal räumen!" Aber nichts geschah. Rufe und Kommentare füllten den Raum.

Die Schreie verschwanden in den Hintergrund. Ich hörte den Lärm nur unterschwellig. Ich stand geistesabwesend auf und stolperte langsame Schritte nach vorne zum Richter. Ich war wie in Trance. Meine Lippen blass. 

Ich klammerte mich an den hohen hölzernen Tisch und sah auf zu ihm. Die Menschen tobten immer noch, dabei hatten sie mich schon aus den Augen verloren.

"Ich bin nicht mehr verhandlungsfähig", flüsterte ich, "bitte....bitte...."

Er sah mir zögernd auf die Lippen. Hören konnte er mich nicht. Er konnte es mir höchstens von den Lippen lesen.

Das Hämmern ertönte.

"Verhandlung vertagt. Der nächste Hauptverhandlungstermin ist in vier Wochen." 

Ich spürte, wie man mich an den Armen packte und mich hinausführte. Mein Onkel dicht hinter mir her. Versuchte mich zu erreichen, aber man entriss mich ihm und brachte mich in einen separaten Raum. Bis der Saal sich räumte und genug Reporter die Zeit aufbrachten, sich vor dem Eingang zu platzieren und mir aufzulauern. 

Ich schnappte nach Luft als mir bewusst wurde, was geschah. Die Tür wurde aufgerissen und Mister Morton eilte heran.

"Miss Liane. Das tut mir unendlich leid. Diese Unterlagen sollten für sie nicht zugänglich sein. Aber der Staatsanwalt hat sich eine Sondergenehmigung hergeschafft und mit den Worten argumentiert, es handle sich hier um eine Erleichterung der Richtentscheidung."

Ich sagte nichts dazu und sah mir nur auf die Schuhe.

"Das reicht", ertönte die Stimme meines Onkels, der hineintrat, "ich will jetzt einfach nur mit meiner Nichte nach Hause. Ist das möglich?"

Er packte mich an den Arm und zog mich hoch. Zusammen verließen wir das Gebäude, wichen den Reportern aus und setzten uns in ein Taxi. Fuhren wieder nach Hause.

"Tu mir ein Gefallen und versuche den Fernseher und die Zeitung zu meiden. Du wirst dich sonst selbst verrückt machen."

Ich antwortete nicht und sah aus dem Fenster hinaus.

Wo ist eigentlich deine Mama?

Zuhause rannte ich die Treppen hoch, knallte die Tür zu und schmiss mich aufs Bett. Ich heulte mir die Augen aus und bekam eine Panikattacke. Die Welt war unfair. Und ich musste zur Rechenschaft gezogen werden, vielleicht, so hoffte ich, war dies die Strafe dafür, dass ich so mit dem Leben meiner Liebenden gespielt hatte. Erst mit dem meiner Mutter, dann mit Andrès und schließlich wieder Mama. 

Vor Angst zuckend, kroch ich in die Ecke meines Zimmers und legte den Kopf auf die angezogenen Knie. Ich legte die Arme um den Kopf, sodass sich meine Sicht verdunkelte. 

[...]

Eine Woche ging um. Ich aß nur noch jeden zweiten Tag. Und ich sah mir jedes mögliche Video über die Gerichtsverhandlung an. In der Hoffnung diejenige Perspektive zu sehen, in der man den Unbekannten sichten konnte. Aber vergebens. Die Kamera war auf mich gerichtet: Der Mörderin. Dem Monster.

[...]

Eine weitere Woche zog an mir vorbei. Meine Augen blickten hinaus aus dem Fenster, als es leise hinter der Tür klopfte. Wie gewohnt saß ich auf meiner Fensterbank.

Deine Mutter ruft nach dir und Onkel William klopft nie. Who is this?

Ich reagierte nicht und dennoch wurde die Tür leise und vorsichtig aufgezogen. Jemand schritt hinein und blieb inmitten des Zimmers stehen. Wartete.

If You Love Me Stay With Me [ABGESCHLOSSEN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt