Kapitel 1 - Amanda

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Es regnete. Seit Tagen.

Das immerwährende Bild von London - das ständige Nass und Grau gehörte zu der Stadt wie die Tea-Time um 16 Uhr. Aber was sollte ich sagen? Ich liebte es. Fast so sehr wie das Schreiben. Und tatsächlich schrieb ich meine besten Artikel zu Hause auf meinem gemütlichen Vintage-Sofa, das dem viktorianischen Zeitalter entspringen könnte, während der Regen gegen die Fensterscheiben prasselte und ein stetiges und fast schon beruhigendes Hintergrundrauschen erzeugte. Oder ich setzte mich einfach in ein gemütliches Café und beobachtete die Leute auf der Straße, während ich mich freute, im Trockenen zu sein. Meine perfekte Vorstellung von einem regnerischen Tag bestand jedoch darin, vor einem offenen Kamin zu sitzen, dem Knacken der Holzscheite zu lauschen und eine Tasse Tee oder Kaffee in der Hand zu haben, mit Blick auf den weitläufigen Park.

Ja, ich liebte den Regen wirklich. Mit einer Ausnahme. Ich hasste ihn, wenn ich auf der Straße vor einem Hotel stundenlang warten musste, kein Café oder Unterschlupf weit und breit zu sehen war und der Mann, mit dem ich mich treffen wollte, sich nun plötzlich doch weigerte, auch nur einen Augenblick seiner ach so wertvollen Zeit zu opfern. Politiker. Ich wusste, warum ich eigentlich nichts mit bekannten Menschen zu tun haben wollte. Aber so war der Job als Journalistin leider. Wenn der Chef sagte spring, hattest du nur zu fragen wie hoch.

Ich schrieb für die Daily Mail eigentlich über Menschen aus dem täglichen Leben. Über den Mittelstand und niemanden der einen Rang oder Namen hatte. Ich liebte die Authentizität und nicht das Blitzgewitter und Posen. Meine Geschichten handelten von Alltagshelden, die seit Generationen kleine Manufakturen betreiben und gegen den digitalen Großhandel kämpften, über Liebespärchen, die sich verloren und wiedergefunden hatten, über Helfer, Gewinner des täglichen Lebens oder über Hürden die Alleinerziehende, Menschen mit Behinderung oder Homosexuelle hatten. Ich kämpfte gegen Vorurteile, Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit. Einfach, weil ich es liebte zu schreiben und weil ich der Ansicht war, dass Wörter die Welt verändern können.

Das tat ich zumindest normalerweise. Jetzt gerade versuchte ich an ein paar kurze Antworten eines halbbekannten Politikers zu gelangen. Und das seit drei Stunden. Im Regen. Im strömenden Regen.

Die Tea-Time war auch schon seit einer guten Stunde vorbei, doch ich hielt mich wacker, kauerte mich unter meinen kleinen gelben Regenschirm, weil mich das Personal nicht im Hotel haben wollte und wartete. Der Regen prasselte so stark auf meinen Schirm, dass man hier schon längst nicht mehr von einem angenehmen Hintergrundrauschen sprechen konnte.

Die Minuten schienen nicht vergehen zu wollen, doch irgendwann läutete mein Telefon. Ich fischte es gekonnt aus meiner Tasche, warf kurz einen Blick auf den Namen des Anrufers und nahm dann ab.

„Hallo Oliver."

„Amanda? Wieso gehst du ans Telefon?"

Ich rollte mit den Augen. Was war das für eine Frage? Mein Chef sollte sich freuen, dass ich seinen Anruf entgegengenommen hatte. Wozu sonst rief man jemanden an, wenn nicht, damit die andere Person abnahm?

„Ich warte noch auf unseren Stargast", antwortete ich so nett wie möglich. Davon abgesehen, dass ich alles andere als ein geduldiger Mensch war, musste mir dieses verfluchte Wetter meine Laune noch weiter vermiesen. Meine Jeans war mittlerweile komplett durchweicht und kalt war mir auch schon seit längerem. Oliver sollte sich also nicht wundern, wenn er das Opfer meines anstehenden Wutausbruchs werden würde.

„Und wieso ist es so laut bei dir?"

Nur mit Mühe musste ich ein genervtes Stöhnen unterdrücken. Ich warf einen Blick nach oben auf meinen quietschgelben Regenschirm, von dem ich eigentlich erwarten würde, dass er mit seinem strahlenden Gelb meine Laune bessern würde. Leider tat er das nicht. Ich fühlte mich in dem tristen Grau eher wie eine gelbe Boje, die meilenweit zu sehen war.

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