Epilog

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Die Farbe deiner Stimme - Artikel von Amanda O'Neill

London, Juni 2021

Geschichten zu schreiben ist eine Kunst. Nicht jeder beherrscht sie, aber das Leben selbst ist wohl der beste Geschichtenerzähler. Was passiert also, wenn man hinter die Fassade der Menschen schaut? Welche Worte nutzen wir? Nutzen wir unsere Stimme überhaupt? Die Geschichten der Menschen gleichen sich und doch sind sie unterschiedlich.

Da ist dieser Mann. Er wartet an der Bushaltestelle, während er versucht, unter dem kleinen Häuschen nicht nass zu werden. Aber in seinem Rollstuhl bietet er einfach zu viel Angriffsfläche, sodass trotzdem einige Regentropfen seine Schuhe treffen. Doch das stört ihn gar nicht. Es ist die Frau neben ihm, die ihn anstarrt. Sie beobachtet, wie er immer wieder ein Stück nach vorne und nach hinten rollt. Einfach, weil er etwas zu tun haben will und hofft, dass so die Zeit ein wenig schneller vergeht, bis der Bus endlich kommt.

Die Frau neben ihn starrt ihn als, als wäre er eine Kuriosität. Dabei sollte sie ihn nicht anstarren, immerhin ist sie es, die Laufen, Springen und Tanzen kann. Sie spürt, wenn ihr jemand auf das Bein tippt. Sie kann Berge erklimmen, in Meeren schwimmen und ohne Probleme jedes Haus betreten. Er kann das nicht. Er ist auf die Hilfe anderer angewiesen. So auch jetzt. Der Bus fährt vor und der Fahrer muss extra aussteigen, um die Klappe für Rollstuhlfahrer zu öffnen. Danach muss er sie auch wieder schließen. Die Frau neben ihm kann selbstständig den Bus betreten und hat keine Hilfe nötig. Wenn sie nur wenigstens sagen würde, was ihr Problem ist, damit sie endlich aufhören würde, ihn anzusehen.

Während der Mann den Rollstuhl im Bus so platziert, dass er während der Fahrt nicht schlingert, betrachtet die Frau ihn gedankenverloren. Er kann immerhin selbstständig seinen Rollstuhl bewegen. Andere können das nicht. Sie ist vor fünf Monaten Mutter geworden. Eine Familie war immer ihr größer Traum gewesen. Ihr Mann liebt und vergöttert sie, und zu ihrem Glück hat nur ein kleines Wesen gefehlt, das aus einem Paar eine Familie macht.

Doch dieses kleine wunderbare Wesen wird nie in der Lage sein auch nur einen Finger zu rühren. Zerebrale Kinderlähmung hatte es der Arzt genannt. Sie liebte ihr Kind. Es war ihr eigen Fleisch und Blut, und doch neidete sie dem Rollstuhlfahrer. Er konnte sich selbstständig bewegen. Ihr Baby würde für immer auf die Hilfe einer anderen Person angewiesen sein. In jeder einzelnen Minute und jeder Lebenslage. Würden auch wieder glückliche Tage kommen? Würde sie ihr Kind aufwachsen sehen? Und während er ihr nun einen grimmigen Blick zuwarf, weil er ihre Blicke wohl falsch gedeutet hatte, fühlte sie sich noch schlechter. Er musste nicht laut sagen, was er dachte. Sein Blick sagte mehr als tausend Worte. Und so wandte sie sich ab. Tränen in den Augen. Wie gut er es nur hatte.

Da ist diese Frau in dem Fastfood Restaurant, an dem der Bus eben vorbeifuhr. Sie ist stark übergewichtig und hofft jede Minute, dass dieser klapprige Stuhl nicht unter ihr nachgibt. Diese Gedanken hat sie aber auch erst, seitdem die Jugendlichen am Nachbartisch sich darüber lustig machen. Sie versuchen nicht einmal, leise zu sein. Sie sagen, es ist kein Wunder, dass sie fett ist, wenn sie dieses ungesunde Essen in sich hineinstopft. Wahrscheinlich geht sie jeden Tag hier essen.

Während die Frau versucht, die bösartigen Kommentare auszublenden, schaut sie ihren Neffen an. Er ist ihr einziger Neffe und hat sie bekniet, heute eine Ausnahme zu machen. Nur einmal wollte er einen Burger essen und nicht dieses vegane Brot, dass seine Eltern ihm ständig zum Abendbrot vor die Nase setzen. Wie hatte sie da ‚nein' sagen können? Viel zu sehr genoss sie die Zeit, die sie zusammenhatten. Sie wollte eine gute Tante sein. Ihr Neffe ist glücklich und allein das ist für sie alles, was in diesem Moment zählt. Trotzdem zehren die Bemerkungen der Jugendlichen an ihren Nerven. Ob sie jemals schonmal was von einer Schilddrüsenunterfunktion gehört haben und wissen, was das für den Körper bedeutet? Wahrscheinlich nicht. Ihren Worten nach wäre es ihnen auch egal.

Da ist dieser alte Mann auf dem Spielplatz, an dem die Frau mit ihrem Neffen später vorbeigeht. Er sitzt fast jeden Abend allein auf der Bank und betrachtet die Kinder beim Spielen. Ihr Lachen erinnert ihn an eine Zeit, in der noch alles gut war. In der er sich nicht so leer gefühlt hatte. Doch die Eltern der Kinder starren ihn an. Sie denken er sei ein Spanner oder Schlimmeres. Dabei will er einfach nur für ein paar Stunden am Tag Frieden finden.

Trostlos zieht er sein Telefon aus der Jackentasche, dass ihm seine Tochter vor zwei Jahren geschenkt hatte. Der Startbildschirm erhellt sich und wieder sieht er seine Familie, wie sie einmal gewesen ist. Glücklich und lebendig. Mehr als anderthalb Jahre ist dieser schreckliche Autounfall nun her. Er hat seine Tochter, und die beiden Enkel verloren. Seitdem ist er vollkommen allein. Allein, einsam und zerbrochen. Eltern sollten nie ihre Kinder zu Grabe tragen. Das ist fürchterlich falsch.

Und während er voller Trauer das Bild auf seinem Smartphone bedient, mit dem er nicht viel anfangen kann, außer ständig auf das Hintergrundbild zu starren, flüstern die Eltern der Kinder weiter. Wie sollen sie auch wissen, dass es ihm schlecht geht und er nur hier das Glück der Familien betrachten kann? Er wünscht sich nur, sie würden nicht so schnell urteilen.

Da ist diese Frau, die in dem Bürogebäude neben dem Spielplatz sitzt. Sie gehörte zu ihren Jahrgangsbesten und geht in ihrer Arbeit als Assistentin auf. Doch auch sie hat schlechte Tage und Zeiten. Als sie einmal zu oft ein Memo für ihre Chefin mit ein paar Rechtschreibfehlern schickt, kommt diese wütend in ihr Büro gestürmt. Schwache Leistung, unnütz, Legasthenikerin. Das sind nur ein paar der Worte, die sich in ihr Gehirn brennen.

Nach dem Wutausbruch verschwindet ihre Chefin wieder und zurückbleibt eine verunsicherte junge Frau, die vor ein paar Wochen noch überglücklich gewesen ist. Vor ein paar Wochen war ihre Arbeit auch noch tadellos gewesen, weshalb sie die Art der Zurechtweisung mehr als nur etwas mitnimmt. Doch vor ein paar Wochen saß ihr schlimmster Albtraum auch noch im Gefängnis. Nun ist er wieder frei und die Albträume sind wieder da. Keine Albträume, sondern Erinnerungen, die sich, wenn sie schläft, in ihr Bewusstsein drängen. Erinnerungen an eine Nacht, in der sie sich nicht hatte wehren können. Erinnerungen an die Scham und die Schmerzen danach. Doch das interessiert ihre Chefin nicht. Sie schlägt um sich und bemerkt nicht einmal die dunkeln Augenringe der jungen Frau. Wenn sie doch nur einmal nachgefragt hätte. Wenn sie doch nur kurz innegehalten hätte. Dann wäre ihr aufgefallen, dass es ihrer Mitarbeiterin schlecht geht. Aber das tat sie nicht. Und die Frau schwieg.

Worte, die wir aussprechen oder verschweigen, geben der Stille einen Klang. Dieser kann aufmunternd, erholsam, schwermütig, optimistisch, melancholisch oder bedrohlich wirken. Er hat die Macht, die Menschen um uns herum zu beeinflussen. Dabei ist nicht jeder Einfluss gut. Ein Schweigen kann ebenso viel Unsicherheit und Trauer schüren, wie ein Wutausbruch.

Jede Stimme hat eine Farbe. Die Farbe verändert sich im Laufe der Jahre und abhängig von der Situation. Es ist unsere Wahl, welche Farbe wir unserer Stimme verleihen. Farben kann man nicht nur auf Leinwänden festhalten. Sie gehen weit darüber hinaus. Denn Farben kann man auch hören. Und solange wir die Wahl haben, welche Farbe unsere Stimme annehmen soll, sollten wir weise entscheiden und hin und wieder einen Schritt zurücktreten, bevor wir uns für eine Farbe entscheiden.


-ENDE-

Color of your VoiceWhere stories live. Discover now