Kapitel 29 - Leere Gläser

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»Du scheinst ja echt nicht allzu oft zu trinken«, bemerkte die Last zu meiner rechten. Angewidert verzog ich das Gesicht und stellte das Glas wieder ab. In meinem Bauch blubberte es nun noch mehr.
»Trotzdem danke. Und jetzt verschwinde«, presste ich genervt zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor. Der Typ dachte jedoch nicht einmal nur daran aufzustehen, nein, er kicherte nur und nahm einen kräftigen Schluck von seinem eigenen Gebräu. Ich hatte noch nicht einmal eine Ahnung, was dieses Zeugs überhaupt war.


»Ich kann dich hier doch nicht einfach so alleine sitzen lassen, Schätzchen.« Er lehnte sich lässig gegen die Stuhllehne und starrte mich an. Ich versuchte ihn zu ignorieren, starrte selbst wieder geradewegs auf meine Finger.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er mich und leerte endlich sein Glas. Ich ignorierte ihn weiterhin und fing wieder an mit meinen Händen zu spielen. Dieser Typ widerte mich an - und dabei sah er noch nicht einmal schlecht aus... Nein, Sam, nein... Ich will einfach nach Hause und mich in mein Bett werfen! Ich spürte, wie meine Augen wieder feucht wurden.


In einer einzelnen Sekunde zischte das Wasser in meinen Augen auf und verblasste in Luft. Ein Messer bohrte sich in meinen rechten Oberschenkel und jagte mir eine Gänsehaut über Schultern, Rücken und Arme. Es war, als brach der Winter urplötzlich herein. Wütend wirbelte mein Kopf herum und ich funkelte den Kotzbrocken an, welcher inzwischen seine Hand auf mein Bein gelegt hatte und mich... streichelte...


»Nimm deine dreckigen Finger von mir«, fauchte ich ihn an. Sein Grinsen wurde nur noch breiter.
»Ich wusste doch, dass du auf Männer stehst.« Meine Augen wurden größer.
»Einhundertzwanzig, oder ich reiße dir deinen Schwanz ab.« Meine Finger kribbelten bereits bei dieser Vorstellung.


»Ganz schön aufmüpfig, Kleiner.« Endlich nahm er seine Hand von mir und lehnte sich wieder mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht zurück. Ich stieß die angehaltene Luft aus und durchbohrte ihn mit meinen Blicken. Eines musste man ihm lassen: Er war hartnäckig und gab sich nicht allzu schnell geschlagen. Eine Welle des Jubels holte uns aus unserer Blase heraus und wir beide richteten unsere Aufmerksamkeit auf die Tanzfläche. Die Stimmung war angeheizter und immer mehr ließen unbeschwert die Hüften schwingen. Es war bereits spät am Abend und reichlich Alkohol ist geflossen. Was mache ich eigentlich hier, verdammt?! Ich sollte wirklich gehen...


»Darf ich dich zum Tanz bitten?« Wie ein Gentleman stand der Typ neben mir auf und reichte mir eine Hand, als würde er denken, ich könnte nicht von selbst aufstehen. Ich zog die Nase hoch und betrachtete seine Hand abschätzend. Mein Blick wanderte zu seinem Gesicht, zurück auf die Tanzfläche, auf das Glas vor meiner Nase.


»If you don't wanna see me dancing with somebody...« Die Musik verführte mich, sie flehte mich förmlich an.
»Komm schon, Kleiner, gib dir 'nen Ruck«, sagte der Typ und zwinkerte mir zu.
»Don't show up, don't come out,
Don't start caring about me now...«


In mir tobte ein Sturm und zerriss mich in Stücke. Mein Blick wanderte zurück zu dem Typen, der mir noch immer bereitwillig seine Hand entgegenhielt. Ein Tanz, ein einziger... Nico würde mich hierfür sicherlich umbringen wollen - doch ich hatte keine andere Wahl...
Ich packte das Glas und leerte es in einem Zug. Immerhin war der Abgang genießbar. Ich donnerte es auf den Tisch, ergriff die Hand meines neuen Verehrers und stand auf.


»Sebastian«, stellte sich die Grinsebacke kurz vor.
»Sebastian, ja? Ich will doch schwer hoffen, dass du keine totale Niete bist, was das Tanzen angeht.« Er lachte herzhaft auf und gemeinsam gesellten wir uns zu den anderen.


Ich unterschrieb das Teufelsblatt. Ich verbannte alle Gedanken und Gefühle wenigstens für diesen einen Abend in die modrigsten Kerker meines Kopfes und ließ mich einfach treiben. Ich wurde ein Teil der Menge, ein Teil der Masse, die unbeschwert ihre Glieder im blinkenden Licht schüttelten, wie sterbende Pinguine lachten und sich mit Alkohol nur so volllaufen ließen. Die Musik zertrümmerte meine Ohren, die Lichter ließen mich erblinden, mein Geist wurde von all der Ekstase taub und hüllte sich in ein dichtes Nebelgewand. Meine Hände begrapschten jeden der es zuließ, meine Zunge erkundete mehr als nur einen Mund, die Unzucht trieb mich voran. An diesem Abend war ich nicht ich selbst, nicht Sam, nicht dieser Junge, der kurz zuvor noch in seinen Tränen ertrank. Nein...


Ich lachte, ich gluckste, ich kicherte, ich tanzte, ich grölte, ich trank und trank und trank, ich sang lautstark zur Musik, ertastete mit meinen Händen völlig neue Landschaften. Tausend Hände, unendlich viele Gerüche. Alle Sorgen, Ängste, Wünsche und was nicht sonst noch alles so in mir hauste, fielen von mir ab, als wäre es nur unnötiger Ballast. Ich fühlte mich rein und lebendig... Ja, lebendig... Ich vergaß all den Schmerz, all das Leid, vergaß auch denjenigen, der mir den Dolch in mein Herz gerammt hat. Ich war frei - frei von allem.


Irgendwann, mein Hirn war zu verdunkelt, um zu wissen, wann genau, riss der Faden der Erinnerung und alles um mich herum wurde schwarz...

Tanz für mich, Sing für uns!Where stories live. Discover now