■ KAPITEL 9 ■

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Luke Gallerway das Bisschen Vertrauen zu geben, um mit ihm zu dem Bach zu gehen, an dem wir als Kinder immer waren, kostet mich Überwindung. Zuletzt war ich hier, da war ich 12.
Luke war 14.
Es fühlt sich an, als sei es eine Ewigkeit her. Wahrscheinlich, weil es das auch ist. Eine halbe Ewigkeit voller Probleme ist vergangen, seit wir zuletzt hier waren. Eine Ewigkeit voller Probleme, Liebe und noch mehr Problemen.

Wir gehen einen kleinen Hügel hoch, der sich an dem Rand von dem großen Spielplatz befindet. Dahinter erstrecken sich etliche Bäume in die Höhe, die genau in dem Abhang sitzen, der hinter dem kleinen Hügel wieder ins Ebenerdige geht. Unten, abgeschottet und sicher, befindet sich der Bach, der für uns früher wie ein kleines Paradies war. Wir haben keine Hausaufgaben gemacht, wir haben unsere Sommertage hier verbracht. Nicht etwa zu Hause, sondern hier. 6 Wochen lang. Tag ein, Tag aus. Wir haben Eis gegessen, Wassermelone, gespielt, alles mögliche. Manchmal waren wir bis Mitternacht hier. Es war die Zeit, in der Mom uns verlassen hat. Ich hab Ablenkung und Freunde gebraucht, und hier hatte ich beides. Es gab Abende, da hat mein Vater eine Polizeistreife geschickt, um mich von hier nach Hause zu holen.
So viele Erinnerungen hängen an diesen Bäumen, diesem Wasser, diesem sandigen Boden voller Leben.

Luke hält sich an einem Baum fest, geht vor. Dann rutscht er mit seinen Füßen über den Boden zum nächsten Baum, so wie er es früher immer gemacht hat. Kurz erinnere ich mich an den frechen Jungen, der mich und seine Schwester damit immer in Sorge gebracht hat.
Ich stehe noch oben auf dem Hügel, während Luke schon unten am Bach steht und sich nach mir umdreht. Seine belebten Augen sehen zu mir hoch. Seine Unterlippe fängt das Piercing ein, das dort ruht.

"Kommst du?!", ruft er nach oben. Ich drehe mich kurz zu dem Spielplatz um, auf dem keine Menschenseele ist. Der Fußballplatz ist mit dünnen Baumstämmen abgetrennt, auf denen wir früher balanciert sind. Alles leer.

Ich trete über die Schwelle, rutsche den kleinen Abhang runter und halte mich nicht an Bäumen fest, um zu stoppen. Ich unterschätze den Schwung, den ich mit mir bringe, und wäre unten beinahe auf die Nase gefallen, wenn seine Arme mich nicht gestoppt hätten. Abrupt lässt er mich danach wieder los, tut so als sei nichts gewesen. Er schiebt seine Hände wieder in die Hosentaschen. Seine Augen sehen zu einem Baum hoch, in dessen Rinde die Initialen von irgendwelchen Kindern geritzt wurden.

"Weißt du noch, als ich früher dein Halstuch geklaut hab, auf den Baum geklettert bin und es oben in der Krone festgebunden hab?"

"Mein Vater hätte dich am liebsten getötet."

"Gwen hat vor Sorge angefangen zu heulen." Ein Lachen kommt aus seiner Kehle. Ich sehe ihn an.
Seine Ex-Freundin wurde tot aufgefunden.
Er scheint dennoch okay zu sein...und das beängstigt mich.

"Ich weiß", sage ich. Ich stelle mich unter den Baum, den er früher bis nach oben erklommen hat, und suche in der Krone nach einem blauen Tuch. Es ist wahrscheinlich eh nicht mehr da. Ich sehe zu ihm zurück. Er hat sich auf die Bank gesetzt, die jetzt vor dem Bach steht. Mich würde es nicht wundern, wenn sie heutzutage von Drogenabhängigen zum dealen benutzt wird. "Wie...geht's dir?"

"Wenn ich gut sagen würde, würdest du mich dann mit so was in Ruhe lassen?"

"Ich denke nicht.", antworte ich. Ich setze mich neben ihn auf die schmale Bank.

"Na dann...beschissen.", sagt er.

"Wie lange wart ihr zusammen? Du und..."

"Ein paar Monate, vor ein paar Jahren."

"Hast du sie geliebt?"

"Nein"

Er sieht Sekunden danach zu mir rüber. Seine Augen senken sich auf mein Gesicht, dann auf meine Beine, die in einer blauen Jeans stecken, bis hin zu meinen Stiefeln. Ich sehe zu dem Wasser, um seinen Blick zu entkommen. Ich spüre dennoch das Brennen seiner Augen.

SHADOWSWhere stories live. Discover now