RASHMIS GEHEIMNIS

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DREIMAL WUCHS DER MOND am nächtlichen Himmel zu einer runden Scheibe, seit Nirriti von den Zweibeinern gefangen und für ihre neue Bestimmung abgerichtet wurde. Für sie wurde einer der ältesten Arbeitselefanten von seinem Dienst befreit und fristete fortan seinen Lebensabend festgebunden, endlos mit dem Kopf wippend und fressend. Manchmal hörte Shiva die alten Dickhäuter im Schlaf sprechen. Sie redeten dann über ihr früheres Leben, ihre Freiheit, Kälber, Herdenmitglieder und den Dschungel. Sie fand es tröstlich, dass sich die Ältesten auch nach so vielen Jahren der Gefangenschaft und Unterdrückung noch an ihr damaliges Leben erinnern konnten.

Tagsüber jedoch kam sie nie ins Gespräch mit ihnen. Shiva hatte sogar manchmal das Gefühl, dass die Senioren ihre Sprache im wachen Zustand nicht verstehen würden oder gar taub waren. Das Gleiche traf leider auch auf ihre Mutter Sadhana zu, die sich mehr und mehr in ihre eigene unverständliche Welt zurückzog. Sie bemerkte nicht einmal, dass Nirriti jetzt bei ihnen stand, ein ehemaliges Herdenmitglied ihrer ursprünglichen Familie.

Nirriti für ihren Teil erinnerte sich sehr wohl an Sadhana und ihre verfluchte Tochter.

»Welchen Beweis brauchst du noch, um endlich einzusehen, dass du Unglück bringst, Shiva?«, fauchte sie ihre ehemalige Kameradin an. »Mein Leben und das meiner Herde war wunderbar, seit du und deine Mutter uns verlassen hatten, und jetzt begegne ich ausgerechnet dich wieder und werde natürlich sofort von diesen verfluchten Tieren gefangen genommen. Dafür wirst du ein für alle Mal büßen müssen, das verspreche ich dir.«

Nirritis Drohungen prallten an Shiva ab. Sie hatte bereits so viel Angst, Schmerz, Demütigung und Qual erlebt, dass es ihr wie Hohn und Spott vorkam, dass sie jetzt auch noch von ihrer schmerzhaften Kindheit eingeholt wurde. Irgendwo tief in ihr drin fühlte Shiva jedoch auch Genugtuung. Hatte es Nirriti nicht irgendwie verdient, was ihr widerfahren war?

Die kommenden Tage waren, wie jeder andere Tag auch, seit Shiva von den Zweibeinern gefangen genommen wurde. Sie wurde früh am Morgen vom Schein der Flammen geweckt, den die Felllosen in ihren Händen trugen, gefüttert und anschließend zur Arbeit aus dem Lager geführt. Erst nach Sonnenuntergang kehrte sie erschöpft und ein weiteres Mal gedemütigt wieder zurück. Sadhana schien allem resigniert gegenüberzustehen, was ihr angetan wurde. Sie folgte stumm den Befehlen der haarlosen Affen und fraß kommentarlos, was man ihr zu Fressen gab. Auch an diesem Tag schenkte sie ihrer Tochter, für die sie einst alles aufgegeben hatte, was ihr wichtig und lieb war, keinen einzigen Blick. Shiva hatte nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihre Mutter verloren.

Doch in dieser Nacht sollte die Herde auf eine Art und Weise zusammenwachsen, wie sie es niemals zuvor tat. Denn als bereits alle schliefen, war Rashmi noch hellwach. Die junge Elefanten-Dame wurde vor etwas mehr als anderthalb Jahren gefangen und vor allem die älteren Kühe vermuteten von Anfang an, dass Rashmi ein kleines Geheimnis in sich trug. Diese Nacht sollte sich herausstellen, ob sie recht behielten.

Rashmi lief unruhig hin und her, und als Shiva von ihren Bewegungen erwachte, konnte sie hören, dass ihre Kameradin vor Schmerzen stöhnte und immer wieder nervös schnaubte. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie schlug hektisch mit dem Schwanz.

»Was hast du denn, Rashmi?«, fragte Shiva, die gern ein paar Schritte näher auf sie zugegangen wäre, aber die Fesseln hinderten sie daran, sich mehr als ein paar Schritte vor- und rückwärts zu bewegen.

»Mein Kalb wird bald da sein«, keuchte Rashmi. »Ist es nicht furchtbar, dass es an diesem scheußlichen Ort zur Welt kommt? Ich wünschte, ich könnte es im Schutz meiner Herde bekommen.« Die werdende Mutter verzerrte das Gesicht und Shiva war sich nicht sicher, ob vor Schmerz über die bevorstehende Geburt oder vor Trauer über deren Umstände.

»Wir sind jetzt deine Herde«, sagte Shiva. »Wir werden alles für dich tun, was in unserer Macht steht.« Sie stupste die Elefantin neben sich an, die grummelnd erwachte.

»Kann ein hart arbeitender Elefant nicht einmal in Ruhe schlafen, ohne, dass er von irgendeinem vorwitzigen Rüssel dabei gestört wird?« Die ältere Dame schüttelte sich und rieb sich die müden Augen mit der Rüsselspitze. Dann bemerkte sie Rashmis Unruhe und begriff sofort, was sich dort zutrug. »Meine Damen! Genug des Schlafes für heute Nacht«, tönte sie gerade so laut, damit alle Elefanten es hören konnten und leise genug, um die Zweibeiner nicht zu wecken. »Unsere Herde wird um ein kleines Mitglied größer. Mögen die Sterne und der Mond dafür Sorge tragen, dass es einem besseren Schicksal entgegensehen darf, als ein Leben in endloser Gefangenschaft.«

Nach und nach erwachten die Elefanten und nach mehr oder weniger kurzer Zeit begriffen sie alle, was gerade vor sich ging. Zu Shivas Erstaunen schien auch ihre Mutter aus ihrer Lethargie zu erwachen und blickte interessiert zu Rashmi, die sich mit dem Hinterteil immer weiter zum Boden hinkauerte.

»Es wird nicht mehr lange dauern, Rashmi«, sagte eine der Ältesten, die ebenfalls neuen Lebensmut gefasst zu haben schien. »Du musst stark bleiben. Ich weiß, du würdest gern an einen anderen Ort gehen, aber diese Fesseln wirst du auch jetzt nicht loswerden können.«

Rashmi nickte und verkniff sich ein schmerzerfülltes Trompeten, um zu verhindern, dass einer der Zweibeiner auf das Geschehen aufmerksam wurde. Die Angst davor, was diese andersartigen Tiere mit dem neugeborenen Elefanten anstellen könnten, war größer als jeder Geburtsschmerz. Doch dieser zog sich Minute um Minute hin. Alle Elefanten waren sehr nervös und hatten große Mühe, möglichst still zu bleiben. Aber dann hatte Shiva eine Idee.

»Wenn Pati hier wäre, könnte er ihr vielleicht helfen«, sagte die mehr zu sich selbst, doch erregte damit sofort große Aufmerksamkeit.

»Keine Zweibeiner, Shiva«, fauchte Tivra, eine der Ältesten. »Sie haben uns schon genug angetan. Wer weiß, was sie mit dem Kalb tun, wenn sie es sehen? Vielleicht töten sie es sofort, da es noch keine Arbeit verrichten kann, oder zwingen es gar, kurz nach der Geburt ebenfalls Holzstämme zu wuchten. Willst du das?«

»Aber Pati ist anders. Er würde niemals zulassen, dass das Kleine missbraucht wird«, widersprach Shiva. »Wenn er sich um das Kalb kümmert, dann ist es sicher.«

»Kommt nicht infrage«, stöhnte Rashmi. »Ich will nicht, dass sich eine dieser Kreaturen meinem Kind nähert. Keine Ahnung was du in ihm siehst, Shiva, aber Pati ist einer von denen. Wenn auch, einer der Harmloseren. Wir können keinem von ihnen vertrauen.«

»Aber was hast du vor?« Nirriti trat ein paar Schritte vor und blickte interessiert zu Rashmi. »Wie willst du verhindern, dass einer der Zweibeiner dein Kind sieht? Es wird dir die nächsten Jahre nicht von der Seite weichen.«

»Das weiß ich selbst!«, knurrte Rashmi und Shiva war sich erneut unsicher darüber, ob ihre unwirsche Reaktion auf die Schmerzen zurückzuführen war, oder ob Rashmi genauso wenig für Nirriti übrig hatte wie sie.

»Du willst es wirklich tun?«, fragte Tivra nach einer kurzen und bedrückenden Stille und ihre gedämpfte Stimme jagte Shiva einen unangenehmen Schauer über den Rücken.

Rashmi nickte und schloss qualvoll die Augen.

»Was? Was will sie tun? Ich verstehe nicht!«, rief Shiva und blickte in zahlreiche von Trauer und Schmerz geplagte Gesichter.

»Ich töte mein Kalb!«, fauchte Rashmi die bittere Antwort.

✅ SHIVA - Das Leben eines ElefantenWhere stories live. Discover now