DIE FALLE DER FELLLOSEN AFFEN

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4 Jahre zuvor

EIN WEITERES JAHR WAR VERGANGEN, seit Shiva von den Tieren des Dschungels gelyncht wurde und zusammen mit ihrer Mutter die Herde verlassen musste. Aber das Jahr, welches jetzt hinter ihr lag, sollte die wohl schönste Zeit sein, die sie in ihrem jungen Leben je erfahren durfte.

Denn vor einem Jahr begegnete Shiva die Elefantin Yamuna, die Tochter einer Herdenführerin und schloss Freundschaft mit ihr. Kurz darauf wurden sie und ihre Mutter Sadhana in ihrer Herde aufgenommen und sie konnten endlich wieder ein sicheres und geregeltes Elefantenleben führen. Sie hatten nun Schutz und mussten nicht mehr von dem leben, was andere Elefanten übrig gelassen hatten.

Auch gab es in dieser Herde keinen Aberglauben, den man Shiva zur Last legte. Ihr krummer Rüssel wurde viel mehr als eine witzige Laune der Natur angesehen und vor allem die ältesten Kühe fanden sie recht putzig und einzigartig.

Aber auch damit hatte Shiva nach und nach ihre Probleme. Sie war bald acht Jahre alt und kam so langsam in ein Alter, wo ein junger Elefant nicht mehr als putzig oder gar niedlich bezeichnet werden wollte. Immerhin war das ein Alter, indem männliche Elefanten ihre Herde verließen. Für die Kühe traf das zwar nicht zu, dennoch war sie kein Kalb mehr und wollte auch nicht mehr wie eines behandelt werden.

Alles in allem hatte Shiva eine bemerkenswerte Wandlung hingelegt, seit sie wieder ein Herdenmitglied war und als solches akzeptiert und respektiert wurde. Es war ihr und ihrer Mutter nicht mehr anzumerken, was für eine furchtbare Zeit sie durchlitten hatten. Beide hatten wieder ordentlich was auf den Rippen und konnten das Leben genießen. Und auch die Nächte waren wieder erholsam. Shiva litt seit etwa neun Monden nicht mehr unter quälenden Albträumen und hatte neben Una weitere Freunde in der neuen Herde gefunden.

Doch eine Sache hing ihr nach wie vor in den Knochen und unterschied sie von den leichtfertigen Jungelefanten der neuen Herde. Shiva konnte einfach nicht durch den Dschungel flitzen, ohne sich ständig zu allen Seiten umzudrehen und nachzusehen, was gerade zu ihren Füßen los war. Zu tief saßen ihr die Scham und die Trauer über die vielen Tiere, die sie damals als unbedarftes Kälbchen schwer verletzt oder getötet hatte.

Ihr Freunde aber nahmen Rücksicht auf ihre Ängste und überdachten im Umkehrschluss sogar ihr eigenes Verhalten. Sie gruselten sich bei dem Gedanken, dass auch sie vielleicht schon bei einem ihrer Wettrennen ein kleineres Tier umgerannt haben könnten.

Ganz besondere Freude bereitete Shiva jedoch ein Blick in ein klares Gewässer, in dem sich ihr Antlitz spiegelte. Denn sie bemerkte, dass ihr krummer Rüssel immer weniger auffiel, je größer sie wurde. Lediglich die Narben würden ein ständiger Begleiter sein und sie an ihr früheres Leben erinnern. Aber sie hatte sich entschlossen, jede einzelne Narbe mit Demut zu tragen und jedem Tier eine Warnung auszusprechen, welches unachtsam mit seinen schwächeren Mitgeschöpfen umsprang.

Eines Morgens schritt die Herde gemächlich durch den Dschungel, als sie plötzlich etwas Ungewöhnliches bemerkten.

»Habt ihr das auch gehört?«, fragten einige der Elefanten und schauten sich ängstlich um.

»Da ist etwas hinter diesem Gebüsch. Seit vorsichtig und bleibt zusammen!«, befahl Uma ihrer Herde.

Langsam drehten sich die Elefanten um und hatten vor, einen Bogen um die vor ihnen liegenden Geräuschen zu machen. Doch diese schienen sich immer weiter zu ihnen hinzubewegen. Bald darauf bemerkten die Ältesten, die sich vor ihrer Umkehr am Ende der Karawane befanden und diese nun anführten, dass sich ihnen auch von dieser Seite etwas näherte.

»Es scheint, als wären wir umzingelt«, brummte Uma, behielt aber die Nerven und Shiva konnte am Zucken ihres Rüssels erkennen, dass sie angestrengt darüber nachdachte, was jetzt am besten zu tun wäre.

»Vielleicht können wir zur Seite ausweichen oder einfach durch sie hindurchgehen?«, fragte eines der jüngeren Kälber, aber Uma schüttelte den Kopf.

»Das sind haarlose Affen«, sagte sie mit einer unheilverkündenden Stimme. »Die lassen uns nicht einfach irgendwo durchgehen, wenn sie andere Pläne mit uns haben.«

»Welche Pläne? Was könnten diese Affen von uns wollen und vor allem, was könnten sie uns antun? Sie sind viel kleiner als wir, wenn ich mich richtig erinnere«, flüsterte Sadhana ihrer Leitkuh zu.

»Du erinnerst dich gut, Sadhana«, gab Uma ihr recht, doch verriet ihr Gesichtsausdruck, dass sie nach wie vor besorgt über die Situation war. »Allerdings haben diese aufrecht gehenden Tiere Möglichkeiten, um uns dennoch gefährlich werden zu können. Sie nennen es Waffen und Fallen. Einige von ihnen haben sich sogar des Feuers bemächtigt. Wir sollten uns auf eine unangenehme Situation einstellen, meine Damen.«

Uma animierte ihre nervös werdende Herde zu einem lauten und bedrohlich klingenden Trompetenkonzert. Alle Rüssel waren daraufhin in die Höhe gestreckt und gaben Laute ab, die Shiva in dieser Art und Weise noch nie von ihren sonst so friedlichen Herdengenossen gehört hatte. Dann stampfte Uma auf den Boden und die größten und stärksten Kühe machten es ihr nach.

Doch das Geräusch kam immer näher auf sie zu.

Dann tauchten sie auf. Auf allen Seiten teilten sich die Büsche und heraus traten in der Tat Affen. Aber sie sahen so anders aus als alle Affen, die Shiva je gesehen hatte. Sie trugen nur sehr wenig Fell. Das meiste davon auf dem Kopf oder im Gesicht. Dafür bedeckten sie ihre Körper mit etwas anderem, was Shiva nicht zuordnen konnte. Es hatte schöne bunte Farben und sie fragte sich, ob die verschiedenen Muster und Farben vielleicht etwas über den Rang des Affen aussagten, der sie trug.

Dann hörte sie die Laute dieser Tiere, die auf langen dünnen Hinterbeinen immer näher auf sie zukamen. Sie machten ganz merkwürdige Geräusche, die so gar nichts mit dem Kreischen und Grunzen der Affen zu tun hatten, die Shiva kannte. In ihren Vorderpfoten trugen diese Tiere ebenso merkwürdige Dinge, wie sie selbst merkwürdig waren. Lange Stöcke und Äste mit einer glänzenden Spitze und einige von ihnen hatten Lianen bei sich. Was hatten sie damit nur vor?

Vorsichtig trat Shiva auf die fremdartigen Affen zu und streckte ihren Rüssel freundschaftlich nach ihnen aus.

»Shiva, nein!«, hörte sie ihre Mutter rufen. »Hast du nicht gehört, was Uma gesagt hat? Sie sind gefährlich. Komm sofort wieder zurück!«

Doch es war bereits zu spät.

Einer der haarlosen Affen hatte eine Liane um ihren Kopf geworfen, die sich bei jeder ihrer Bewegungen enger um ihren Hals schnürte. Drei weitere Affen piksten sie unablässig mit ihren spitzen Stöcken in die Flanken und den Hintern. Es tat nicht sehr weh, dennoch war es unangenehm und bewog Shiva dazu, sich instinktiv in die Richtung zu bewegen, die ihr die Zweibeiner aufzeigten. Sie war ihnen ausgeliefert, denn wenn sie versuchte, sich zu ihrer Herde umzudrehen, verursachte das Schmerzen und Atemnot.

Sie schrie und trompetete ihrer Herde zu Hilfe, doch die anderen Elefanten wurden durch mehr und mehr Zweibeiner zurückgedrängt, von denen einige sogar Feuer in den Händen hielten.

Zwischen Shiva und den anderen entstand ein immer größerer Abstand, bis sie sie kaum noch sehen konnte. Doch sie konnte einen der Elefanten auf sich zu rennen sehen. Jemand musste es geschafft haben, sich gegen die haarlosen Affen zu behaupten und die Verfolgung aufzunehmen.

Es war Sadhana, ihre Mutter.

Es dauerte nicht lange, da hatten die Affen auch die große Elefantin mit ihren Lianen gefesselt und mit den spitzen Stöcken traktiert. Gemeinsam leisteten sie ihnen Folge und hatten ihre Herde verloren. Die Einzige, die ihnen jemals das Gefühl von Liebe und Geborgenheit gegeben hatte.

Was von diesem Moment an auf sie zukommen mochte, wusste keine der beiden.

✅ SHIVA - Das Leben eines ElefantenWhere stories live. Discover now