DIE STRAFARBEIT

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AM NÄCHSTEN MORGEN versammelten sich die Jung-Elefanten kurz vor Sonnenaufgang. Aastha überwachte mit strengen Blicken, dass auch wirklich jedes der Kälber zu der Strafarbeit anrückte, auf die sie und Kumar sich geeinigt hatten. Sie war davon überzeugt, dass sie damit recht glimpflich davongekommen waren. Immerhin bedeutet es einen schweren Fall von Respektlosigkeit, die Vorräte anderer Tiere zu stehlen.

Aastha wusste, dass Shiva diejenige war, die die Elefantenäpfel gegessen hatte. Aber sie war sich darüber im Klaren, dass die anderen Kälber, nach der Urteilsverkündung durch König Alok, weiterhin ihre miesen Spielchen mit Shiva trieben. Sie wusste auch, dass einige der älteren Kühe der Herde das Mädchen nach wie vor als einen bösartigen Unruhestifter betrachteten. Aus diesem Grund hielt die Leitkuh es für das Beste, die anderen Kälber ebenfalls an der Strafe zu beteiligen. Auf diese Weise würden sie lernen, dass man keine Scherze auf Kosten anderer machte. Vielleicht, so hoffte Aastha noch viel mehr, würden sich die Kälber und Shiva wieder annähern, wodurch Frieden in die Herde kommen würde. Ein Frieden, den sie selbst durch die strengsten Ermahnungen bislang nicht realisieren konnte.

Shiva lag auf einem weichen Bett aus Pflanzen und Moos neben den kräftigen und beschützenden Beinen ihrer Mutter. Sie war wach, hatte die Augen geöffnet und sah, wie sich die anderen Kälber bereits sammelten, um ihre Strafarbeit anzutreten. Shiva wusste, dass sie sich zu ihnen gesellen musste, doch die schaffte es nicht, sich aufzuraffen, um sich ihnen anzuschließen. Sie ahnte, dass sie sich genau in diesem Augenblick etwas einfallen ließen, um ihr den Tag erneut zur Hölle werden zu lassen.

»Shiva, los steh auf. Die anderen warten schon auf dich«, sagte Sadhana, Shivas Mutter und stupste die kleine Elefanten-Dame sanft mit dem Rüssel an.

Shiva erhob sich mühsam und streckte ihre müden Gliedmaßen. »Ich weiß, Mama. Kannst du nicht mitkommen?«, fragte Shiva und blicke ihre Mutter mit großen traurigen Augen an.

»Nein, mein Schatz«, verneinte diese und Shiva ließ augenblicklich die Ohren hängen. »Das ist deine Strafarbeit und du bist doch nicht allein.«

»Das ist ja das Problem. Die anderen werden mich noch mehr hassen, weil sie alle Vorräte für die Rhesusaffen sammeln müssen«, schniefte Shiva und kuschelte sich an den warmen Bauch ihrer Mutter.

»Und warum müssen sie das? Weil sie dich reingelegt haben«, sagte Sadhana mit einem strengen Blick zu den anderen Kälbern. »Außerdem bist du jetzt alt genug, um dich verteidigen zu können. Du bist kein Kälbchen mehr, Shiva. Wenn ich dich begleiten würde, dann hätten die anderen Kälber noch mehr zu lästern. Willst du auch noch, dass sie denken, dass du dich nicht abnabeln kannst?«

Shiva hatte darüber nie nachgedacht. Sie hatte immer nur ihre Mutter gehabt, die ihr beistand, seit die Hänseleien wegen ihres Rüssels begannen. Sadhana verteidigte ihre Tochter stets gegen die älteren Kühe, die der Meinung waren, in ihr würde ein böser Geist leben. Shiva konnte sich nicht so einfach von ihr lösen, wie die anderen Kälber, die alle untereinander befreundet waren und zusammen spielten und die Welt erkundeten. Mit Shiva wollte das niemand mehr tun, sie brachte ja schließlich Unglück. Was würde sie also ohne ihre Mutter anfangen? Sie wäre allein ohne sie und eine einsame Elefantenkuh gilt noch viel mehr als ein Bote dunkler Mächte als eine mit einem krummen Rüssel.

Sadhana gab ihrer Tochter einen weiteren Schubs und widerwillig gesellte sich Shiva zu den anderen Kälbern, die sie mit finsteren Blicken erwarteten.

»Passt bloß auf, dass sie euch nicht gleich wieder alles wegfuttert, was ihr gesammelt habt«, giftete Nirriti sofort los.

»Du weißt ganz genau, wie es wirklich war, Nirriti«, setzte sich Shiva zur Wehr, doch die anderen trompeteten nur belustigt und drehten Shiva die Rücken zu.

Aastha kam zu ihnen und führte sie zu dem Platz, von dem aus sie anfangen sollten, Vorräte für Kumars Affenbande zu sammeln. Shiva trottete mit gesenktem Kopf hinterher.

Nachdem sie eine Weile durch den Dschungel gelaufen waren, hielt Aastha auf einer kleinen Lichtung an. Ringsherum wuchsen verschiedene Bäume und Sträucher, an denen geeignete Früchte und Blätter hingen, die sie für die Affen sammeln konnten.

»Teilt euch ein wenig auf«, schlug Aastha vor. »Jeder sammelt eine bestimmte Nahrung. Shiva, geh du dort vorn zu den Würgefeigen.«

»Aber vergiss nicht, dich von ihnen erwürgen zu lassen«, tuschelte Nirriti kichernd zu ihren Freunden.

»Das habe ich gehört, junge Dame«, ermahnte die Aastha prompt. »Ich verlange, dass ihr euch heute alle angemessen benehmt. Ihr seid hier sozusagen als Repräsentanten unserer Herde. Alles, was ihr euch zu Schulden kommen lasst, geht auf Kosten unseres Rufs und wenn der einmal ruiniert ist, sind wir nicht mehr überall im Dschungel willkommen.«

»Aber es ist doch immer Shiva, die Unsinn macht!«, protestierte Nilua.

»Ihr wisst genauso gut wie ich, dass das nicht stimmt, und jetzt reißt euch zusammen und fangt an«, erwiderte Aastha und der Boden vibrierte unter ihrer dröhnenden Stimme. »Abinash, du gehst dort drüben hin und sammelst neue Elefantenäpfel. Nirriti sammelt Kapokbaumblüten, die wir nachher zum Trocknen an eine sonnige Stelle legen und ihr anderen pflückt Gras und sammelt Gelbwurz.« Die Herdenführerin zeigte mit ihrem Rüssel auf die jeweiligen Pflanzen und zog sich mit einem letzten auffordernden Nicken zurück.

Shiva machte sich auf den Weg zu den Banyan-Feigen, die wegen ihrer parasitenhaften Lebensweise auch als Würgefeigen bezeichnet wurden. Ihren Kameraden schenkte sie keinen Blick und hoffte, dass diese sich genauso gewissenhaft ihrem Tagewerk zuwenden würden, wie sie und, dass sie bis zum Ende ihrer Aufgabe Ruhe vor ihnen haben würde.

Als die kleine Elefanten-Dame vor dem Feigenbaum stand, musste sie zunächst innehalten und überlegen, wie es ihr gelingen sollte, diese kleinen, runden, rot-orangefarbenen Früchte zu pflücken. Ausgewachsene Elefanten waren zwar sehr geschickt mit ihren Rüsseln, doch war es fast unmöglich für sie jede Feige einzeln vom Zweig zu zupfen. Shiva hatte einfach noch nicht die nötige Routine bei solchen Tätigkeiten und, ja, ihr Rüssel war schief ... doch sie wollte sich die Blöße nicht geben und mit plump abgerissenen Ästen zur Sammelstelle zurückkehren.

Also reckte sie sich den Würgefeigen angestrengt entgegen, indem sie sich auf die Hinterbeine abstützte und ihren Körper so lang machte, wie es ihr möglich war. Dann streckte sie den Rüssel aus und konnte mit der Rüsselspitze, an deren Ende sich zwei Greiffortsätze befanden, vorsichtig die Feigen vom Baum holen. Sie war sehr stolz auf sich, dass es ihr so gut gelang und, dass sie die Früchte trotz der Anstrengung nicht zerquetschte.

Shiva achtete weder auf die Bemühungen ihrer Kameraden, noch auf die Schmerzen, die sich langsam in ihren Knochen und Muskeln ausbreiteten. Sie war einzig und allein darauf konzentriert, ihren Auftrag zur Zufriedenheit aller auszuführen. Vor ihrem inneren Auge sah sie bereits Kumar, den Chef der Affenbande, der sich darüber freute, dass seiner Familie wieder zahlreiche Vorräte zur Verfügung standen. Sie sah zudem den stolzen Blick ihrer Mutter und auch die neidischen Blicke der anderen Kälber. Shiva konnte einige von ihnen erzählen hören. Wenn sie in diesem Tempo weitermachten, dann können sie niemals so viel sammeln, wie sie es tat.

Entgegen ihren Befürchtungen schien dieser Tag einen schönen und erfolgreichen Verlauf für sie zu nehmen. Doch dann hörte Shiva etwas im Unterholz vor ihr Rascheln ...

✅ SHIVA - Das Leben eines ElefantenOnde histórias criam vida. Descubra agora