✅ SHIVA - Das Leben eines Elefanten

DU BIST NICHT WIE WIR!

11 Jahre zuvor

»WAS WILLST DU, Krummrüssel? Du hast hier nichts verloren. Hier weiden nämlich nur die richtigen Elefanten. Die mit einem normalen Rüssel. Los, verzieh dich!«

Nirriti war nicht die einzige junge Elefantenkuh, die der Ansicht war, dass die kleine Shiva nicht in ihre Herde passte, doch sie war von allen diejenige, die diese Meinung am deutlichsten vertrat.

Shiva war nur wenig jünger als Nirriti. Die beiden sind miteinander aufgewachsen und früher verstanden sie sich sehr gut. Doch mit den Jahren wurde immer deutlicher, dass mit Shivas Rüssel etwas nicht in Ordnung war. Er hatte am unteren Drittel einen Knick. Niemand wusste, woher dieser kam, denn Shiva berichtete niemals von einem Unfall mit diesem für Elefanten lebenswichtigen Körperteil. Doch diese Missbildung sorgte vor allem bei den Ältesten der Herde für Gesprächsstoff.

Die alten Kühe waren der Auffassung, dass Shiva ein Thaye innewohnte – der Geist eines sehr bösen Tieres, der nach dessen Tod keine Ruhe finden konnte. Demnach schlussfolgerten sie, dass auch die kleine Shiva ein von Natur aus bösartiger Elefant sei. Anfangs war es lediglich Getuschel unter den Herdenältesten. Doch besonders Nirriti blickte zu den weisesten Tieren auf. Auf diese Weise verbreiteten sich die Gerüchte über Shiva rasch unter den Kälbern.

Aastha, die Leitkuh der Herde, ermahnte die anderen Kühe mehrmals, diese, ihrer Meinung nach, unsinnigen Geschichten über die kleine Shiva zu unterlassen. Jedoch war der Aberglaube bei ihnen tief verwurzelt und Shiva mit ihrer rebellischen Art sorgte auch nicht gerade dafür, dass ihr der Ruf eines braven Kalbes nachhallte. Immer wieder war sie in irgendwelche Abenteuer verstrickt oder trampelte durch den Dschungel, um die kleineren Tiere aufzuscheuchen. Nicht wenige davon beklagten sich bei Bindi. Die betagte Kuh misstraute Shiva am allermeisten und sorgte dafür, dass sich jede ihrer Untat in der Herde herumsprach.

Meist war es gar nicht Shivas Idee, diese Dummheiten zu begehen. Abinash, der jüngste Sohn von Aastha und derzeit der einzige Bulle in der Herde, setzte den Kälbern die aberwitzigsten Flausen in die Köpfe. Viele von ihnen lehnten ab und blieben bei ihren Müttern, doch Shiva konnte einfach nicht den ganzen Tag still stehen und den älteren Tieren beim Weiden zusehen. Sie wollte etwas erleben und Abinash war in diesem Punkt auf einer Wellenlänge mit ihr.

Doch auch das änderte sich schlagartig, als es eines Tages zu einem folgenschweren Unfall kam:

Es war Regenzeit und heftige Monsunwinde versetzten den Urwald in Angst und Schrecken. Shiva und Abinash überredeten die kleine Dayita, mit ihnen zum Fluss zu gehen, um dabei zuzusehen, wie Äste, ganze Bäume und auch die ein oder anderen Tiere von den Fluten davon getrieben wurden. Doch der heitere Ausflug endete in einer Katastrophe, als Dayita am schlammigen Ufer abrutschte und ebenfalls in den reißenden Fluss fiel.

Abinash war sich sicher, dass Shiva ihre Freundin geschubst hatte, als ihn die anderen fragten, was denn geschehen sei. In Wahrheit ist Shiva selbst auf den glitschigen Wegen weggerutscht und hat Dayita dabei unabsichtlich einen Stoß verpasst. Sie hätte sie gerettet, wenn sich ihr die Möglichkeit dazu geboten hätte. Aber der Fluss riss die junge Elefantenkuh schneller mit sich, als Shiva und Abinash registrieren konnten, was geschehen ist.

Diese Version der Geschichte glaubten nicht viele. Bindi und Nirriti fühlten sich in ihrer Meinung über Shiva ein weiteres Mal bestätigt.

Seitdem war Shivas unbekümmerte Kindheit vorbei. Nun waren nicht mehr allein die alten Kühe davon überzeugt, dass in ihr ein böser Geist innewohne, sondern vor allem die anderen Kälber, die ihre Nähe seit dem gänzlich mieden. Bis auf Nirriti, die Shiva immer wieder wegen ihres krummen Rüssels aufzog.

Manchmal wünschte sich Shiva von diesem Tag an, tatsächlich so böse zu sein, wie ihr nachgesagt wurde. Dann hätte sie die Kraft und den Willen, sich an Nirriti und Bindi zu rächen.

Aber würde ihr das wirklich helfen können?