EINE NEUE HEIMAT

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6 Jahre zuvor

VIER JAHRE WAREN vergangen, seit Shiva und ihre Mutter Aasthas Herde verlassen mussten. Seitdem haben sie weite Strecken zurückgelegt und hielten sich nie sehr lange an einem Ort auf.

Schnell machte die Nachricht in ganz Indien die Runde, dass eine verstoßene Elefantenkuh mit ihrem verfluchten Kalb durch die Länder streifen würde, um Unglück und Tod unter den Tieren zu verbreiten. Der Fluch ihres früheren Lebens lastete somit noch immer auf ihnen und verfolgte sie, wohin sie auch gingen.

Es war auch ohne derartige Anschuldigungen problematisch für eine Elefantenkuh, ohne Herde zu sein. Wenn sie zusätzlich ein Kalb mit sich führte, von dem behauptet wurde, ein böser Geist würde ihm innewohnen, war es schier unmöglich; jemals wieder Kontakt zu anderen Elefanten aufzunehmen.

Und genauso erging es Sadhana und Shiva in den letzten Jahren. Die Ablehnung, die sie in ihrer alten Herde zu spüren bekam, wurde ihnen anderswo gleichermaßen zuteil und so blieben sie allein und versuchten, so gut es eben ging, für sich selbst zu sorgen. Aber das war schwieriger, als sie es sich vorstellten. Die letzten Jahre waren günstig und ließen die Vegetation und damit die Pflanzenfresser gedeihen und sich rege vermehren. Auch die Elefanten profitierten davon und kamen in großer Anzahl in allen Teilen Asiens vor.

Das war sicher gut für sie selbst, aber es hatte ebenso Nachteile. Denn Elefanten brauchen sehr viel Futter – und das täglich. Auch wenn es der Flora der Ebenen und Wälder gut ging, so brauchte es dennoch seine Zeit, bis alles wieder nachgewachsen war an Orten, an denen Elefanten geweidet hatten. Je mehr Kälber geboren wurden und je mehr ältere Elefanten überlebten, desto mehr Futter beanspruchten die Herden für sich.

Dieser Umstand machte sie bei den anderen pflanzenfressenden Tieren sehr unbeliebt und durchziehende Kolonnen wurden in manchen Gebieten nicht mehr geduldet. Vor allem die schwächeren Tiere, wie Hirsche und Antilopen, machten sich zunehmend gegen die Elefanten stark, die nicht nur massenhaft fraßen, sondern auch viel zertrampelten und eine Menge Dung hinterließen. Alle Bemühungen, sie davon zu überzeugen, dass die Elefanten gerade dadurch zum Erhalt der Vegetation beisteuern würden, stießen auf taube Ohren.

Shiva hatte das Gefühl, als wäre das ganze Land von einer feindseligen und negativen Stimmung geprägt. Trotz oder gerade wegen all des Überflusses gönnte keiner dem anderen etwas und es wurde für sie und ihre Mutter immer schwerer, an einem Ort zu bleiben, an dem sie sich sattfressen konnten.

Erst gestern wurden sie von drei zornigen Panzernashörnern vertrieben, als sie offenbar in deren Gebiet grasen wollten. Shiva war nach wie vor sehr mager und auch ihre Mutter hatte in den letzten Jahren stark abgebaut. Shiva sorgte sich um sie. Nie zuvor war die alte Elefantin ohne den Schutz einer Herde gewesen und niemals musste sie jeden Tag mit einem derartigen Stress und der Angst ums bloße Überleben existieren.

Shiva fühlte sich schuldig daran. Wenn sie nicht auf die Welt gekommen wäre, dann würde ihre Mutter noch immer im Schutz ihrer Herde leben können und für ihre Ernährung und Sicherheit wäre gesorgt. Doch dann kam sie, mit ihrem krummen Rüssel und ihrem aufbrausenden Temperament, die sich selbst und ihre Mutter immer und immer wieder in Schwierigkeiten brachte. Sie sah es mittlerweile nicht mehr als Selbstverständlichkeit an, dass ihre Mutter ihr eigenes sicheres Leben für sie geopfert hat. Jede andere Elefantin hätte ihr ungehorsames und besessenes Kalb seinem Schicksal überlassen. Aber Sadhana lehnte bereits zwei Angebote von Herden ab, die ihr erlaubt hätten, sich ihnen anzuschließen, wenn sie dafür ihr Kalb zurückließe.

In der Tat gab Shiva einen immer furchtbareren Anblick ab. Zu ihrem krummen Rüssel und der hageren Statur gesellten sich die zahlreichen Narben an ihrem ganzen Körper. Diese sollten sie ihr Leben lang an den Rachefeldzug der kleineren Tiere erinnern, denen sie damals, als Kälbchen, in ihrem ungehorsamen Übermut so viel Leid angetan hatte. Sie schämt sich mittlerweile aufrichtig dafür, aber sie konnte es nicht mehr ändern.

✅ SHIVA - Das Leben eines ElefantenDove le storie prendono vita. Scoprilo ora