40.

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"Kalista?" Eine Hand rüttelt sanft an meiner Schulter und ein gequältes Stöhnen entkommt meiner trockenen Kehle.
Mühsam öffne ich meine Augen und schaue meinen besorgten Bruder mit großen Augen an.
"Was..?" Erst langsam nehme ich mehr von meiner Umgebung wahr. Ich sitze in meinem Mitsubishi- oder dem was davon übrig ist. Die Front ist auf ein Drittel der eigentlichen Länge zusammengeschoben und eine kleine Dampfwolke steigt auf. 
Es riecht nach Rauch und irgendwie tut mir alles weh.
Nach und nach beginnt mein Hirn wieder zu arbeiten und ich drücke den ausgelösten Airbag weg. Vorsichtig schnalle ich mich ab.
"Geht... geht die Tür auf?" frage ich Kaiden leise. Im Hintergrund sehe ich zwei weitere Gestalten stehen, kann aber niemanden erkennen. Ich stehe definitiv unter Schock.
Kaiden winkt einer der Gestalten ran.
"Du machst die Tür auf und ich halte Kali. Ich bezweifle, dass sie sich halten kann."
"He, ich höre dich." maule ich schwach und irgendwie scheint er zu grinsen.
"Na, so schlecht geht's ihr wohl doch nicht."
Dann zieht jemand kräftig an der verkeilten Tür und wie ein lebloser Sack falle ich in die Arme meines Bruders.
Langsam bewegen wir uns zum anderen Fahrbahnrand.
"Ich... habe Durst."
"Hier!" antwortet eine weibliche Stimme und hält mir eine offene Flasche Wasser vor mein Gesicht. Jenny?
Ich versuche mich an einem Lächeln, bin mir aber nicht sicher, ob ich damit erfolgreich bin.
Gierig trinke ich von dem Wasser und langsam, aber sicher, kehrt die Realität zu mir zurück.
"Der raucht immer noch, wir sollten die Feuerwehr rufen." meint Jenny, doch ich schüttle sofort energisch den Kopf- was ich direkt bereue, denn mein Schädel dröhnt.
"Auf gar keinen Fall. Die bringen die Polizei mit, und dann lande ich im Knast. Dieses Auto explodiert nicht oder so. Wir haben damals unter der Motorhaube eine Art Feuerlöscher angebaut, der sofort auslöst, wenn eben sowas passiert. Der Dampf ist das Wasser vom Kühler."
Erschöpft sinke ich zusammen und lehne mich an die Beine einer hinter mir stehenden Person an. Liam? Wie kommt er hierher? Zärtlich streicht er über mein Gesicht.
"Ich brauche mein Handy. Ich muss Adrian anrufen." sage ich leise und rapple mich auf. Liam hält seinen Arm um meine Schulter gelegt, als wir auf das Wrack zugehen. Aus der Mittelkonsole fische ich meine Sachen; Handy, Portemonnaie und Schlüssel. 
"Adrian? Ich brauche deine Hilfe. Sofort."

Etwa eine Stunde später kommt ein Abschleppwagen. 
In der Zwischenzeit haben wir versucht, zu rekonstruieren, was passiert ist.
Irgendwas stimmte mit meinem Wagen nicht und als ich jemanden angerufen habe, habe ich Liam kryptisch die Nummer der Landstraße mitgeteilt, wobei er danach nur noch den Knall gehört hat und sofort Kaiden angerufen hat. Daraufhin sind sie in Liams Wagen die Straße abgefahren und haben mich etwa zwanzig Minuten nach meinem Umfall hier gefunden.
Ziemlich genau das erklären wir auch Adrian und dem Typen, der das kaputte Auto auf seinen Schlepper lädt.
Ich bin erstaunlich fit und klar für das, was mir gerade passiert ist und so lasse ich keine Proteste zu und weise den Fahrer an, das Wrack zu mir nach Hause zu bringen. Gemeinsam mit Adrian und dem mir Unbekannten quetsche ich mich in die Fahrerkabine. Liam, Kaiden und Jenny folgen uns in Liams Wagen.
Mit vereinten Kräften schieben die Männer den Mitsubishi in meine Garage. Ich drücke dem Fahrer noch ein paar Scheine in die Hand und kurze Zeit später sind er und Adrian wieder auf dem Rückweg. Ich weiß allerdings, dass er morgen früh mit Bea gemeinsam hier auftauchen wird.
"Mir wäre lieber, wenn du trotzdem ins Krankenhaus fährst, Kali." mault Jenny zum wiederholten Male.
"Und was soll ich denen sagen? Jenny, mir geht's soweit gut. Lass mich in Ruhe duschen gehen und danach checkt Liam mich durch. Wie so ein Körper funktioniert weiß der schließlich auch."
Zustimmend nickt er und schenkt meiner besten Freundin ein aufmunterndes Lächeln. 

Erschöpft falle ich ins Bett zu Liam, der sich vorsichtig an mich schmiegt.
Bis auf ein paar blaue Flecken, vermutlich vom Sicherheitsgurt, und einer ganz leichten Gehirnerschütterung scheine ich wirklich nichts abbekommen zu haben. Wie tief der Schock sitzt wird sich erst noch zeigen. Vermutlich, wenn ich mir mein Baby morgen mal genauer anschaue. 

Stumm rinnen Tränen über mein Gesicht, als ich die Garage betrete und den Schritthaufen anstarre. Vorsichtig umrunde ich ihn, meine Finger gleiten sanft über die Oberfläche. 
Mein Blick schweift zu dem Mazda, der mich beinahe vorwurfsvoll 'ansieht'.
"Was ist da nur schiefgelaufen? Ethan, ich dachte schon, ich lande bei dir..." murmle ich leise, dann öffne ich das Tor um frische Luft und Licht reinzulassen. Und um Adrian Zutritt zu erlauben, der sich mit mir gemeinsam das Wrack anschauen wird. Denn aus dem Nichts sollten weder die Sensoren von drei Reifen Alarm schlagen, noch sollte die Bremse versagen.
Angestrengt atmet Adrian aus. "Verdammt, das sieht nicht gut aus. Kalista ich bin so froh, dass dir nichts weiter passiert ist." Kurz drückt er mich an sich, dann treten wir auf den Schrotthaufen zu.
"Schau mal." Ich zeige ungläubig auf einen Schnitt im Reifen. Ein Schnitt, kein Riss. Die Ränder sind perfekt glatt und der Cut ist komplett gerade. Nichts ausgefranst oder so, wie es bei einem geplatzten Reifen wäre. Sofort schauen wir uns die restlichen Räder an. Nur ein Reifen scheint unversehrt und ich erinnere mich undeutlich, dass auch nur drei von den vier Sensoren angeschlagen haben.
"Hast du so eine Rollbank, damit ich mich mal unter das Auto legen kann?" unterbricht Adrian meine Gedankengänge und schnell hole ich ihm das Brett mit den Rollen aus der Ecke. Vom Werkzeugwagen hat er sich schon eine Lampe genommen und schon verschwindet der Mann unter dem, was von meinem Wagen übrig ist.
Ich höre ihn nur undeutlich murmeln und fluchen, bis er wieder auftaucht.
"Wir müssen zur Polizei."
Erschrocken schüttle ich den Kopf. "Die fragen zu viel. Damit gefährde ich nicht nur meine Freiheit, sondern genauso deine und die von Shane und all den anderen, die immer mitfahren. Auf gar keinen Fall."
"Kalista, dein Auto wurde sabotiert. Die Reifen wurden ganz klar aufgeschlitzt, ebenso deine Bremsleitung. Die kann nicht gerissen sein. Viel zu glatt und vor allem an einer Stelle, wo kaum Kräfte drauf gewirkt haben können. Das muss angezeigt werden."
"Nein."
"Willst du mich verarschen?" Adrian erhebt seine Stimme und läuft mir hinterher, als ich ihn einfach vor der Garage stehen lasse und zum Haus gehe. In der Küche kesselt er mich ein, indem er die Tür versperrt, nachdem ich mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank genommen habe. Ich spüre förmlich, wie Bea, Jenny, Kaiden und Liam im Wohnzimmer die Ohren spitzen um nichts zu verpassen. "Kalista, ist dir eigentlich bewusst wie unfassbar viel Glück du hattest? Dass du den Wagen noch so lange kontrollieren konntest, grenzt an ein Wunder. Und dass du nicht direkt gegen einen Baum geknallt bist, noch viel mehr. Verdammt, du hättest gestern draufgehen können, verstehst du das eigentlich überhaupt?!" brüllt er mich mit dem letzten Satz an. Sofort stehen die Anderen bei uns in dem für diese Personenanzahl definitiv zu kleinen Raum. Genervt und überfordert dränge ich mich an allen vorbei und falle im Wohnzimmer auf die Couch. War es wirklich so knapp gestern? Wer tut sowas und geht eben dieses Risiko damit ein? Eine Sekunde erwische ich mich, wie ich darüber nachdenke, wie es wäre, wenn ich jetzt nicht mehr hier wäre. Tot. Bei einem Autounfall, wie Ethan. Es wäre beinahe ironisch. Aber ich bin noch nicht bereit zu gehen. Nein.
Jemand tritt hinter mich und legt stumm seine Arme um mich. Das wohlige Gefühl, was mich dabei durchfährt verrät Liam allerdings.
Er klettert über die Couchlehne, setzt sich neben mich und zieht mich an sich. Er hält mich fest, presst meinen Kopf an seine Brust  und zwingt mich, seinem ruhigen Herzschlag zu lauschen, während er meinen Arm auf und ab streicht. Tatsächlich entspanne ich mich dabei ein wenig und die Tränen auf meine Gesicht trocknen wieder. Wie viel kann ein Mensch eigentlich weinen, bevor er austrocknet?
"Jemand wollte mich tot sehen." flüstere ich tonlos. 

Adrian räuspert sich vorsichtig. "Ich werde einen Aufruf starten. Ich will alles Videomaterial, alle Bilder, einfach alles von gestern haben. Irgendwer muss was gesehen haben."
"Danke." sage ich leise.
"Nicht dafür. Dafür sind Freunde da." lächelt er, bevor er verschwindet. 

HeartracerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt