Routine

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Es dauerte einen kleinen Moment bis Ben das eben gehörte verarbeitet hatte und sich auf den weg in den Linken Trakt machte. Er zählte die Türen auf der rechten Korridorseite:
Sechzehn b), Siebzehn b), Achtzehn b) und schließlich Neunzehn b). Vom Inneren des Raumes waren schon vereinzelte Stimmen hörbar, scheinbar hatte der Unterricht schon begonnen. Ben klopfte zweimal vorsichtig an die Tür. Von drinnen wurde ein: "Herein!" hörbar und er betrat das Klassenzimmer. Der Raum war groß und von vorne bis hinten mit geschichtlichen Plakaten über die französische Revolution, das Nazi-Regime in Deutschland, das römische Reich und vielem mehr zugekleistert. Vorne am Pult stand ein älterer Mann mit glänzenden grauen Haaren und einem Drei-Tage-Bart, der ihn interessiert ansah. "Mein Name ist Ben Hamilton", begann Ben vorsichtig an den Lehrer gerichtet, "Ich soll mich hier im Unterricht melden, ich bin neu hier!" Der Lehrer nickte stumm und wies auf einen freien Platz neben einem schlanken Mädchen in schwarzer Kleidung und pastel-rosa, leicht lockigen Haaren.
Ben rückte seine Tasche zurecht und bewegte sich auf den Platz zu. Der Lehrer hatte schon längst wieder mit dem Unterricht fortgefahren und erzählte etwas von den Motiven der Dichter im Expressionismus. Ben setzte sich leise auf den Stuhl um nicht direkt unangenehm aufzufallen. Das Mädchen musterte ihn mit einem sehr skeptischen Blick der zugleich besagte, dass man sich mit ihr besser nicht anlege. Dennoch streckte Ben ihr aus Höflichkeit die Hand entgegen und flüsterte: "Hi, ich bin Ben! Wer bist du?" Das Mädchen beugte sich leicht zu ihm rüber und schob seine Hand weg: "Ich bin Allison, Freunde nennen mich Ally - dazu zählst du aber noch lange nicht. Und noch was: behalt deine Hände einfach bei dir, dann überlebst du die Stunde! Klar?"
Erschrocken zog Ben die Hand zurück und blickte Allison entgeistert an. Sie konnte sich ein kleines verschmitztes Lächeln über seine Reaktion nicht verkneifen, setzte dann jedoch wieder eine ernste Miene auf und tat so als würde sie dem Unterricht folgen. Man sah ihr jedoch an, dass sie in ihrer ganz eigenen Welt war.
Als die Glocke zum Ende der Stunde schellte sah Ben auf seinen Stundenplan und stellte erfreut fest, dass als nächstes Biologie anstand. Nachdem er einige Schüler gefragt hatte fand er seinen Weg in den anderen Trakt, in dem die Naturwissenschaften unterrichtet wurden. Als die Biologielehrerin mit strengem Dutt und weitem schwarzen Kleid ihnen aufgeschlossen hatte fiel Ben auf, dass das merkwürdige Mädchen Allison ebenfalls den Raum betrat. Er suchte sich einen Platz möglichst weit weg von ihr und versuchte sich auf die angemalten DNA-Stränge an der Tafel zu konzentrieren, über die die Lehrerin einen Vortrag hielt. Auch die restlichen Stunden am Tag machten Ben einigermaßen Spaß, für schulische Verhältnisse aber eine Sache kam ihm komisch vor: die Kurse und Teilnehmer variierten in jeder Stunde, bis auf Allison. Er hatte jedes einzelne Fach zusammen mit ihr und er konnte aus irgendeinem Grund nicht aufhören über sie nachzudenken.
Nach der Schule stieg er wieder in den Bus und fuhr schweigend nach Hause. Inzwischen war es nach fünf Uhr Abends und an dem Wagen in der Einfahrt erkannte er, dass sein Dad inzwischen wieder Zuhause war. Ben schloss die Tür auf und ein genüsslicher Geruch kam ihm aus der Küche entgegen. Eines musste Ben seinem Vater lassen, er machte die besten Aufläufe auf der Welt!
Ben grinste und setzte sich an den Esstisch im Wohnzimmer. Sein Dad folgte ihm mit zwei Tellern voller Auflauf. "Lass es dir schmecken, Sohnemann" sagte er und stellte Ben einen Teller vor die Nase. Ben konnte sich kaum zurückhalten und nach ein paar Minuten war seine Mahlzeit schon verspeist und in der Verdauung.
Sein Dad aß etwas langsamer, weil er nicht umhin kam von seinem ach so tollen Job als Markler zu erzählen und im Endeffekt damit zu prahlen wieder dutzende Leute mit viel Geld übers Ohr gehauen zu haben.
Nach dem Essen ging Ben auf sein Zimmer und setzte sich an die Hausaufgaben, die zwar nicht schwierig waren aber sehr viel Zeit in Anspruch nahmen. Als er endlich fertig war, war es schon nach elf Uhr. Schnell putzte sich Ben die Zähne und legte sich dann ins Bett um noch ein wenig zu lesen. Bald jedoch fielen ihm die Augen zu und er schlief ruhig ein.
Im Traum jedoch tauchte immer wieder Allison auf, die ihn mit ihrem Blick voller Skepsis durchbohrte und ihn durch die seltsamsten Traumwelten führte. Am nächsten Morgen fühlte sich Ben ganz benommen und musste erst noch ein paar Minuten liegen bleiben um die Träume zu verarbeiten. Der Schultag lief dann aber genauso problemlos wie der erste. Auch in den folgenden Wochen und Monaten traten nicht wirklich Probleme auf. Ben wurde gut in der Schule, beteiligte sich immer mehr, schrieb Bestnoten, blieb aber trotzdem ein Einzelgänger. Den einzigen Kontakt, falls man es so nennen könnte, hatte er mit Allison, mit der er zusammen arbeitete, wenn der Lehrer eine Partnerarbeit verlangte. Beide blieben dabei aber immer professionell, konzentrierten sich nur auf die Aufgaben und redeten kein einziges privates Wort miteinander.
Bens Alltag beschränkte sich so dann auf Schule, Hausaufgaben und lesen, was zu einer einzigen Routine wurde.

Phoenix - Alles auf AnfangOù les histoires vivent. Découvrez maintenant