Ezra seufzte und wägte ab, wie er wohl am schnellsten Kontakt zu seiner Familie und den Freunden aufnehmen könnte. Sein Handy hatte er entweder auf dem Schiff verloren, oder der Sturm hatte es als Pfand behalten. Kleingeld oder andere Wertsachen trug er nicht bei sich, wie er schnell feststellte. So oder so fehlten ihm die Mittel. Seine einzige Hoffnung ruhte auf dem Leuchtturm – die sich offensichtlich als Fehlentscheidung herausstellte. Vielleicht war dieser Ort tatsächlich seit Jahren nicht mehr betreten worden, wundern würde es ihn nicht. Das wuchernde Pflanzengestrüpp sollte dringend wieder gestutzt werden.

Ezra vermisste seine beiden Freunde. Harvey's Grinsen, das ansteckend wirkte und selbst die größten Probleme in belanglose Lappalien verwandeln konnte. Clayton, der zwar kein emotionaler Springbrunnen war, aber trotzdem mit Rat und Tat zur Seite stand. Und inmitten dieser wirren Gedankenkonstellationen meinte der Schwarzhaarige, einen sich bewegenden Lichtkegel zu erkennen. Er hoppste über das hohe Gras und näherte sich tatsächlich der Holzhütte, von der sich Ezra's erschöpfte Knochen nicht hochraffen konnten. Die Lichtquelle kam vom Leuchtturm.

Cassian würde Harvey mögen. Ausgeschlossen, dass er sich von dieser fröhlichen Persönlichkeit nicht angelockt fühlen würde. Und Harvey würde den Blauhaarigen ebenso rasch in sein goldiges Herz schließen, ihn ohne Ende zuquasseln und ihm früher oder später seine Tanzleidenschaft zeigen. Clayton wäre reserviert aufgetreten, wie bei jedem Fremden, aber selbst der stille Typ würde sofort einen Narren an dem lieblichen Cassian fressen. Wie auch nicht?

*

*

*

„Wer bist denn du?"

Ezra blinzelte und löste sich schwerfällig aus seiner Traumwelt, hob den Blick und verzog das Gesicht. Sein Kopf tat weh und gegen das dumpfe Pochen würde er sogar eine Tablette nehmen, die ihm seine überfürsorgliche Mutter in die Hand drücken würde.

„Zumindest kein blinder Maulwurf. Nimm das Licht weg"

Das Licht erlosch. Stattdessen kniete sich der Fremde vor ihn und betrachtete den ausgelaugten Körper des Schwarzhaarigen, dessen Zittern nicht aufhörte. Kränkliche Blässe und müde Augen rückten den physikalischen Verfassungszustand des jungen Mannes in eine ernste Lage.

„Du siehst halb tot aus, nein, mehr tot als lebendig", stellte die Stimme klar und wühlte in einer ausgebeulten Tasche seiner dunklen Jacke. „Die Umstände, die dich zu mir führten, kannst du mir später erklären. Jetzt nimmst du erstmal ein warmes Bad und isst was. Na komm, bevor du mir noch umkippst"

Mit dieser Ankündigung fiel die hölzerne Tür auf und Ezra, der sich geschlagen gab und sich von dem alten Mann mit dem weißen Bart stützen ließ, taumelte ihm auf zittrigen Knien hinterher ins Warme. Dieses Szenario war ihm bekannt, oft schon hatte er ähnliche Umstände und Begebenheiten in seinen Krimis verfasst, bei denen die Hauptperson an seiner jetzigen Stelle kurz davor war, einem psychisch kranken Übeltäter in die Arme zu laufen. Ezra wägte nur sehr lustlos die kleine Wahrscheinlichkeit ab, ob dieser Mann mit dem weißen Bart ebenfalls seine Leichen im Keller stapelte, doch es kümmerte ihn herzlich wenig. Er war müde und ihn fror, allein deswegen nahm er sein Glück in die Hand und betrat das fremde Anwesen. Das Innere des Hauses überraschte ihn so sehr, dass ihm der Mund aufklappte. Staunend betrachtete er die hellen Farben der Decke und die vielen Bilder, die den kleinen Eingangsbereich säumten. So heruntergekommen die Hütte von draußen aussah – mindestens so gemütlich lud sie zu einem Kurzurlaub ein. Harvey würde es hier gefallen. Der alte Mann nahm den Schriftsteller sanft aber bestimmt an der Schulter, führte ihn eine Treppe hinauf und bugsierte ihn ohne Erklärungen in ein winziges Badezimmer.

„Irgendwo müsste ich noch Klamotten haben, die dir passen sollten. Geh duschen, ich suche sie dir heraus", deutete der Mann auf das angesprochene Zimmer und nickte. Der Alte verschwand und zog die Tür hinter sich zu. Ezra setzte sich auf den Rand der Badewanne und verbarg das Gesicht in seinen Händen. Erst jetzt, mit der Wärme des Hauses um ihn herum, fiel ihm auf, wie schrecklich entkräftet er war. Jede Bewegung glich einer überdimensionalen Überwindung und nachdem er von dem gutherzigen Alten eine neue Garnitur frischer Wäsche erhalten hatte, bei dem ihm kein Messer in die Brust gerammt worden war, raffte er sich ächzend auf und entkleidete sich. Die zerschlissenen Stoffreste an seinem Körper legte er säuberlich zu einem Stapel aufeinander – bereit, sie wegzuwerfen. Sie weckten nicht nur gute Erinnerungen.

Ocean Eyes  [MERMAID!AU]Where stories live. Discover now