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Es lässt mir keine Ruhe. Ständig muss ich an Alex denken. Oder vielmehr an seine Kindheit.

Und ich weiss nicht, wie ich ihm helfen könnte. Und ob er überhaupt Hilfe will. Er hat versucht damit abzuschliessen und ich sollte das akzeptieren. Aber ich kann das nicht. Ich kann nicht verstehen, wie man das einfach vergessen will. Mir würde es keine Ruhe geben. Aber ich bin nicht Alex. Jeder Mensch verarbeitet die Dinge anders. Und wenn das seine Art ist, dann ist es die beste Art für ihn.

Also beschliesse ich, dass ich ihn nicht darauf ansprechen werde. Ich bin für ihn da, falls er reden möchte, so wie ich es für jeden wäre. Nur denke ich nicht, dass er darüber reden möchte. Mich hat es mehr als verwundert, als er mir seine Geschichte erzählt hat. Niemals hätte ich mit so viel Offenheit gerechnet.

Aber ich habe auch gespürt, dass er das nicht für mich getan hat. Dass er es noch nie ausgesprochen hat und es einfach mal tun musste, damit es real für ihn wird. Es ist wie eine Gewissheit für ihn, dass es tatsächlich passiert ist. Aber trotzdem will er es verdrängen.

Schon immer habe ich ein gutes Gespür für Menschen gehabt; ob es ihnen gut geht, ob sie mir die Wahrheit erzählen.

Und bei Alex habe ich das Gefühl, dass er noch nicht bereit ist, sich damit zu konfrontieren. Er verschliesst sich davor, weil er es nicht ertragen kann. Für ihn muss es unglaublich schwer sein, dass seine Mutter wegen ihm tot ist, nachdem er ihr versprochen hat, er würde sie beschützen.

Aber wenn ich ihm nicht helfen kann, so entscheide ich mich dazu, das einzige zu tun, das ich momentan kann.

Ich werde fliegen lernen.


«Leg los», sagt Alex.

Ich nicke, hole tief Luft und schlage so mit den Flügeln, wie ich es letztes Mal getan habe. Allerdings gebe ich mir Mühe, die Flügel so zu halten, dass ich nicht gleich wieder nach hinten fliege. Einmal ist schon schlimm – und peinlich genug.

Ich spüre den Druck der Luft, der auf meine Flügel ausgeübt wird in jeder Feder und tatsächlich habe ich das Gefühl, dass ich mich leicht hebe.

Nicht viel, nicht einmal einen Zentimeter. Aber ich werde leicht hochgehoben.

Ein Lächeln stiehlt sich mir aufs Gesicht und ich sehe zu Alex, der mit einer Seelenruhe dasteht, dass es wirkt, als ob er eine Statue wäre.

«Hast du das gesehen?», frage ich begeistert.

«Nein. Ich will, dass du fliegst. Nicht, dass du ein bisschen mit den Flügeln schlägst», sagt er kalt. Noch kälter als sonst. Na toll. Und ich dachte, wir hätten diese Phase hinter uns.

Ich verdrehe die Augen und beginne mit der gleichen Prozedur. Jedes Mal gewinne ich etwas mehr Sicherheit und mache kleine Fortschritte.

Und dann, nachdem ich es ein paar Mal gemacht habe, beginne ich zu experimentieren.

Ich schlage mehrmals mit den Flügeln, um mich höher in die Luft zu bringen. Dabei lande ich nicht nur einmal auf dem Hintern, schramme mit den Ellbogen über den Boden, weil ich nach vorne falle, oder verknackse mir beinahe den Knöchel, weil ich falsch auftrete.

Aber ich bin schon immer ehrgeizig gewesen und gebe nicht so schnell auf. Nicht, wenn ich Fortschritte mache. Und wenn sie noch so klein sind.

Alex steht nur da und beobachtet stumm. Mir scheint, ihm würde jede kleine Bewegung auffallen.


Erschöpft lasse ich mich aufs Bett fallen. Mein Rücken schmerzt wie noch nie und ich kann mich kaum noch bewegen. Aber ich habe einen Schritt vorwärts gemacht. Ein kleiner Schritt auf einem grossen Weg.

Shadow and IronWo Geschichten leben. Entdecke jetzt