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Ich klammere mich an Alex und schliesse meine Augen, damit mir nicht schwindlig wird, was aber nicht viel bringt. Es fühlt sich an, als ob ich in die Leere fallen würde. Um uns herum weht ein starker Wind, der meine Haare um meinen Kopf weht.

Dann ist es plötzlich vorbei und ich stehe wieder auf festem Boden. Auf einen Schlag verschwindet der Wind und ich torkele, weil ich noch immer das Gefühl habe zu fallen. Nur die Dunkelheit bleibt. Es hat kaum einige Sekunden gedauert.

«Du kannst mich jetzt loslassen», sagt Alex und bewegt seinen Arm leicht, um mich darauf hinzuweisen.

«Sorry», sage ich und trete verlegen einen Schritt zurück. Ich sehe mich um. Wir stehen im Wald am Rand von Phoenix. Es ist stockdunkel und ich sehe kaum meine Hand vor Augen. Aber ein Baum, der neben mir steht, verrät mir, wo wir sind. Auf den Strassen befinden sich wohl kaum Bäume.

«Wie um alles in der Welt hast du das gemacht?», frage ich Alex und drehe mich in seine Richtung. Ich kann nur seine Umrisse erkennen.

«Teleportation», sagt er und seine Stimme klingt völlig teilnahmslos.

«Teleportation?», frage ich ungläubig und ziehe eine Augenbraue nach oben, was er vermutlich gar nicht sehen kann. Was um alles in der Welt ist denn noch möglich?

«Vieles», sagt Alex bloss.

«Was hast du noch für Fähigkeiten?», frage ich und hoffe dieses Mal auf eine richtige Antwort. Lange Zeit sagt er nichts und ich gebe es schon auf, auf eine Antwort zu hoffen.

«Machst du dann endlich, was ich dir sage?», fragt er zurück.

«Ja», sage ich nach kurzem Zögern.

Alex seufzt. «Na gut, ich zeige es dir», sagt er dann nach einer langen Pause. «Geh ein paar Schritte zurück», warnt er mich. Ich frage nicht nach, aber er macht mir definitiv Angst. Schon allein sein Tonfall sorgt dafür, dass ich Folge leiste.

«Normalerweise, sollte nichts passieren, aber man kann nie sicher sein», sagt er und ich kann mir sein Grinsen geradezu vorstellen.

Das wiederum macht mir jetzt Sorgen. Wenn Alex, der seit mehreren Jahren ein Mutant ist, seine Fähigkeiten nicht komplett kontrollieren kann, wie soll ich das dann schaffen? Sicherheitshalber mache ich noch zwei Schritte zurück.

Ich bin so weit zurückgetreten, dass ich kaum Alex' Umrisse erkennen kann. Aber ich kann erkennen, dass er tief einatmet und seine Arme lockert.

Dann öffnet er die Augen, die hellblau leuchten, wie an dem Tag, als wir zum ersten Mal zusammen trainiert hatten. Hab ich's doch gewusst. Um seine Fingerspitzen zucken hellblaue Blitze. Ich stolpere noch einen Schritt zurück, als sich diese ausbreiten und nun um seinen gesamten Oberkörper zucken, als ob ich dem entfliehen wollte.

«Was zum Teufel», murmle ich. Wie um alles in der Welt ist so etwas möglich? Irgendwie will das alles noch nicht in meinen Kopf hinein, selbst bei alledem, das ich bis jetzt gesehen habe. Ich habe immer versucht eine logische Erklärung für das alles zu finden. Habe versucht mir einzureden, dass es so etwas wie das Übernatürliche nicht gibt. Aber mittlerweile kann ich nichts mehr finden, das dagegenspricht. Die Teleportation, das Gedankenlesen. Und jetzt das.

Ich merke, wie mein Widerstand langsam zu bröckeln beginnt.

«Nein, nein, nein», flüstere ich vor mich hin, drehe mich um und laufe. Weg von Alex. Weg von alledem. Von dem Übernatürlichen. Auch wenn das sinnlos ist.

Aber kaum habe ich ein paar Schritte gemacht, laufe ich auch schon gegen Alex, der seine Hände um meine Oberarme schliesst. Ich will mich ihm entwinden und weglaufen, aber er hält mich mit eisernem Griff fest und zwingt mich ihm in die Augen zu blicken, die jetzt nicht mehr leuchten.

«Hör mir zu», sagt er. Ich will nicht, aber ich habe ja keine Wahl. «Ich weiss, wie das wirkt. Glaub mir, anfangs ging es mir genau gleich. Aber eines kann ich dir versichern: Wenn du es einfach ignorierst, wird es nur schlimmer. Tag für Tag wird es schwieriger das alles unter Kontrolle zu halten. Und die Schmerzen wirst du nicht verhindern können. Du bist eine Mutantin Shay und du kannst nichts dagegen machen, gegen deine Fähigkeiten.»

Bei dem Wort Mutant bin ich zusammengezuckt. Aber ich weiss, dass er die Wahrheit gesagt hat. Auch wenn ich nicht will, dass es die Wahrheit ist. Sein Griff wird noch fester, als ich mich wieder versuche zu befreien.

«Hörst du jetzt endlich auf dich zu wehren und lässt mich dir etwas beibringen oder stellst du dich weiterhin quer und verleugnest das alles?», fragt er mich und schüttelt mich leicht damit ich ruhig bleibe.

Da ich ihm in die Augen sehe, liest er vermutlich gerade meine Gedanken, auch wenn ich nicht sicher bin, ob er mir dazu in die Augen schauen muss.

Nein muss ich nicht und jetzt konzentrier dich auf die anderen Sachen.

Von Natur aus bin ich ein Sturkopf, weshalb es mir schwerfällt meine Meinung zu ändern. Mir ist bewusst, dass ich meine Meinung schon längst geändert habe, aber ich will es nicht zugeben. Etwas, das schon viele Dinge in meinem Leben erschwert hat.

Aber Alex hat, nach seinem Grinsen zu urteilen, das ich schwach erkenne kann, meine Gedanken schon längst gelesen und weiss, dass er mich überzeugt hat. Er lässt mich los und tritt einen Schritt zurück.

Bist du jetzt offen für mein Angebot?

Langsam nicke ich.

Gut.

Er dreht sich um und bedeutet mir ihm zu folgen. Widerstrebend laufe ich ihm hinterher und stolpere auf dem Weg über tausend Wurzeln und einmal laufe ich sogar gegen einen Baum. Schnell laufe ich weiter und bin froh, dass es so dunkel ist, damit Alex nicht sehen kann, wie rot ich bin.

Alex hat uns zu einer kleinen Lichtung im Wald geführt, wo ich bisher noch nie war. Es ist noch immer stockdunkel und ich kann kaum etwas erkennen. Alex steht in etwa drei Metern Entfernung von mir, allerdings ist auch das nur eine blosse Vermutung. Er könnte genauso gut am anderen Ende der Lichtung stehen.

«Wenn du dich konzentrierst, wird es funktionieren», sagt er ruhig.

«Und was, wenn nicht», frage ich ängstlich.

«Wird schon gutgehen», sagt er.

Bestimmt. Ist ja auch nicht so, dass ich keine Ahnung habe, was ich tun muss. Aber jetzt gibt es wohl kein Zurück mehr. Ich schliesse meine Augen und atme tief aus.

Ich versuche mir alles bildlich vorzustellen, aber es will mir nicht gelingen. Ich weiss nicht, wie ich mir das vorstellen sollte. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass sich noch immer etwas dagegen wehrt.

Plötzlich legen sich Hände auf meine Schultern und ich zucke zusammen, kann mich aber nicht umdrehen, da die Person mich daran hindert.

Ganz ruhig.

Ich versuche mich wieder zu entspannen, jetzt da ich weiss, dass es Alex ist. Trotzdem komme ich keinen Schritt weiter. Ich versuche und versuche es, aber es ist, als ob ich mich unbewusst dagegen sperre und ich weiss nicht, wie ich dagegen ankämpfen will. Es ist, als ob ich gegen mich selbst kämpfen würde.

Dann spüre ich ein Zucken an meinen Schulterblättern, das von Alex Händen ausgeht und mir wird bewusst, was er da gerade tut. Über meinen ganzen Rücken verteilen sich elektrische Wellen. Es ist wie am ersten Tag, als er das getan hat, aber es fühlt sich anders an. Ich weiss nicht, wie stark diese elektrische Wellen sind, aber es ist nicht schmerzhaft. Ich weiss auch nicht, was Alex damit bezwecken will, aber ich hoffe, dass es mir hilft, diesen Schmerz zu umgehen.

Das Kribbeln hält an. Es hat eine beruhigende Wirkung und ich beginne mich zu entspannen. Lockere meine Muskeln und richte meine Gedanken auf die Flügel.

Ruf dir das vor Augen, das dir am meisten präsent ist. Das, was das Erste ist, wenn du an die Flügel denkst.

Ich nicke als Zeichen, dass ich verstanden habe.

Ich denke an diese Nacht zurück. An den Moment, in dem ich die Flügel das erste Mal betrachtet habe und mich gleichzeitig vor ihnen gefürchtet, sie aber auch bewundert habe. Daran, wie sie sich anfühlten. An das befreiende Gefühl, als ich da auf dem Boden in der Mädchentoilette lag.

Und dieses Mal gelingt es mir.


Shadow and IronWo Geschichten leben. Entdecke jetzt