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Ich hätte schreien müssen

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Ich hätte schreien müssen. Um mein Leben flehen müssen. Ich hätte um mich schlagen, versuchen müssen, mich aus seinem Griff zu befreien. Stattdessen konnte ich aber einfach nur in diese Augen blicken und nichts tun. Es war, als würden sie mich gefangen halten, als würden sie mir jedes Fünkchen Kraft entziehen.

„Du erinnerst dich", ertönte seine tiefe, dunkle Stimme. Ich hatte ihn nie sprechen gehört, hatte ihn nur gesehen, wie er meinen Bruder erstochen hatte. Er hatte ihm das Messer in die Brust gerammt und ich war dagestanden und hatte nichts dagegen tun können, hatte es noch nicht einmal versucht. Diesem Mann nun auch eine Stimme zuordnen zu können, fühlte sich merkwürdig an. Es war fast so, als würde damit eines der fehlenden Teile, die sich im Endeffekt zu einem großen Ganzen zusammensetzen würden, ergänzt werden.

Was tat er hier? Hatte er mir aufgelauert? Wollte er zu Ende bringen, was er vor zehn Jahren nicht geschafft hatte?

Plötzlich ließ er mich los, erhob sich und trat einige Schritte von mir weg. Verwirrt und immer noch leicht benebelt setzte ich mich auf. Als ich ihn dann da, nur einige Meter entfernt, vor mir stehen sah, legte sich schließlich doch noch ein Schalter in mir um. Der Schalter, der anscheinend für rationales Verhalten zuständig war. Ich rückte, immer noch auf dem Boden sitzend, weiter von ihm weg, wollte mehr Abstand zwischen uns bringen. Der Schmerz in meinem Bein, der wohl durch den Aufprall auf dem Boden verursacht worden war, bestätigte mir, dass es keinen Sinn hatte, wegzulaufen. Wenn er mich einholen wollen würde, wenn er mir etwas antun wollte, dann würde er es innerhalb weniger Sekunden schaffen. Ich wäre nie im Leben schnell genug, um ihm zu entwischen. Seine Statur sprach dafür, dass er trainiert war, dass er keine Probleme haben würde, mich einzufangen und auch mir einen Dolch ins Herz zu stoßen. Da konnte ich genau so gut hierbleiben und versuchen, dem Ende so würdevoll wie nur möglich entgegen zu treten.

„Ich habe nicht vor, dich zu töten oder dich zu verletzen", sagte er auf einmal und diese verfluchte Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. Das war die Stimme eines Mörders. Warum sagte er das überhaupt? Er hätte alles sagen können, doch nichts würde mich je dazu bringen, ihm zu trauen. Ich wusste, wozu er fähig war. Immerhin hatte ich es mit eigenen Augen gesehen. Warum also versuchte er, mich in Sicherheit zu wiegen?

„Weil es keinen Grund für dich gibt, Angst vor mir zu haben."

Ich schluckte. Von wegen keinen Grund. Er hatte mir das Wichtigste auf dieser Welt weggenommen. Er war der Grund für meine Einsamkeit. Für das Leid und die Schuld, die auf meinen Schultern lasteten.

Es gab also sehr wohl einen Grund, Angst vor ihm zu haben. Und doch war es nicht die Angst, die gerade die Oberhand in meinem Inneren übernahm.

Es war der tiefsitzende Hass, der nun in all seiner Grausamkeit aufblühte.

„Keine Sorge, ich habe auch nicht gerade damit gerechnet, dass du bei meinem Auftauchen in Freudentränen ausbrechen würdest."

Ich war drauf und dran zu einer Antwort anzusetzen. Doch dann hielt ich inne.

Riscéa - Schuld und LügeWhere stories live. Discover now