38« Davis

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Meine Hände zitterten, während ich den Brief zu lesen versuchte.
Ich weinte nicht.
Durch meinen Körper floss zu viel Respekt und Ehrfurcht, als das ich so emotional werden konnte.

Hinter verschlossenen Türen war es mir durchaus möglich nasse Augen zu bekommen und die harte Maske fallen zu lassen, aber der Moment schien mir unangebracht.
Die Situation allerdings viel weniger.

Ich könnte für Tears weinen. Ich konnte jahrelang für ihr Leben weinen und der einzige Haken wäre, dass ich ihr damit überhaupt nicht helfen würde.
Sie brauchte kein Mitleid, das war das Letzte.

Mir schwirrte der Kopf von all den Informationen, die ich heute erhalten hatte. Ich hatte immer geahnt, dass Tears aufgestaute Geschichte keine Komödie war, aber das sie so sehr zu leiden und in so jungen Jahren bereits so viel hatte halten müssen, war auch in meinen Träumen nicht klar gewesen.

Mit elf Jahren seine Mutter zu verlieren, war ein unglaublicher Verlust. Schlimmer wurde es dann aber, wenn der Vater ebenfalls krank wurde und man in der Pubertät dazu verdammt war, seine Schwester und seinen Vater zu pflegen. 

Ich konnte verstehen, warum Tears nie zur Schule gegangen war.
Sie konnte einfach nicht. Ihr Leben barg privat zu viel, um sich mit Lehrern, Freunden und nervtötenden Mitschülern rumzuschlagen.
Ich konnte mehr und mehr all ihre Verhaltensweisen verstehen. Sie hatte mehr als nur ein Recht zu weinen.
Bei all ihrer Kraft war es auch nur verständlich, irgendwann schwach zu sein.

Ich war erleichtert nun von ihrer Vergangenheit zu wissen.
Ihre Erzählung beantwortete mir einige meiner Fragen, würgte mir allerdings auch weitere auf.
Die Sorgenfalten auf meiner Stirn waren noch lange nicht geglättet und auch wenn ich wusste, dass sie das vermutlich nie wieder sein würden, so gab es doch ein paar Punkte, die ich aus der Welt schaffen konnte.

Mir grauste es vor Janes Beschreiben in ihrem Brief.
Sie beschrieb den Abend in Downtown aus Tears Sicht und erzählte dabei von einem Mann, der sie, bevor ich gekommen war, angefasst hatte. Sexuelle Belästigung.
Mir war kotzübel bei dem Gedanken, dass auch nur ein Mann es gewagt hatte, sie zu berühren. Ungefragt!
Die Wut überflutete in mir jeden klaren Gedanken und ich schnaubte wütend, weil dieser Abend einfach Scheiße gewesen war.

Wie hatte ich je so ein Arschloch sein können? Wie hatte ich so schlecht über sie denken können, ohne dabei zu wissen, wieso sie so zerbrochen war?
Ich schämte mich für mich selbst. War das denn zu fassen?
Ich schämte mich dafür ihr je begegnet zu sein und tief in mir, wünschte ich, die Zeit zurückdrehen zu können.

Welcher lebensunwürdige Mann hatte es gewagt, dieser Frau so ungehobelt nahe zu kommen?
Wer hatte ihr wehgetan?
Wieso hatte ich es nicht verhindern können?

Ich schnaubte laut auf und erhob mich ruckartig aus meinem Drehstuhl, dass er schwungvoll hinter mich rollte und gegen die getönten Scheiben knallte.
Der Aufprall genügte mir nicht und ohne nachzudenken – geladen mit blanker Wut – schlug ich kurzerhand auf meinen Schreibtisch aus Glas.

Ich war außer mir.
Die Wut auf mich selbst machte mich rasend und sauer und ließ mich rot sehen, als ich begann auf die Scheibe einzuschlagen.

Ich hatte sie nicht beschützt!
Ich hatte zugelassen, trug selbst Schuld daran, dass jemand ihr wehgetan hatte, dass jemand sie angefasst hatte, belästigt und berührt hatte. Ich wollte sterben, aus lauter Schuldbewusstsein und Scham für meine Existenz.
Nie im Leben hatte mich etwas mehr enttäuscht, als dieses Geständnis auf Papier.

Wie viel hatte Tears denn noch zu tragen? Gab es noch mehr von diesen schrecklichen Geheimnissen, die ich zu wissen hatte? Wie weit hatte sich dieses Loch gegraben? Wo blieb Tears in dieser Geschichte?
Wie schaffte sie es, über all diesen Dingen und Geschehnissen zu stehen?
Wie schrecklich fühlte sie sich oder kam sie damit klar?

TEARSWhere stories live. Discover now