14« Tears

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All die Luft, die sich in meinem Inneren gestaut hatte, platzte wie die Luft eines zersprungenen Luftballons aus mir heraus.
Mir schien, als könnte ich nicht mehr atmen. Dabei war das, was ich zu hören bekam, nichts Neues.
Ich hatte es immer schon gewusst.
Aber es war schon damals schrecklich gewesen.

»Es tut mir leid, Miss Evens. Wir können leider nichts mehr für sie tun. Die Medikamente schlagen einfach nicht an.«
Und damit war ihr Todesurteil so gut wie unterschrieben.
Damit würde ich sie verlieren.
Vielleicht heute oder morgen. Vielleicht aber auch erst in zwei Wochen.

Es ausgesprochen zu hören, klang wie ein Fluch, der mich bereits seit Jahren verfolgte.
Mein Innerstes löste sich langsam und flog davon.
Der Schock kroch aus all seinen Fugen und raubte mir die Fähigkeit standhaft stehenzubleiben. Mir den Kopf haltend, sank ich auf der Liege neben Jane nieder und starrte auf den Boden.

Wie sollte ich das überleben?
Wie sollte ich sie auch noch gehen lassen? War das selbstsüchtig? Wenn ich mir wünschte, sie nicht auch noch zu verlieren? War es egoistisch, weil ich sie nicht losließ?

»Komm, wir gehen. Danke schön.«

Jane war wie immer die Stärkere von uns beiden. Warum? Wie machte sie das? Wie schaffte sie es all diesem Druck standzuhalten und darunter nicht zu brechen?

Mir flossen schon nach seinen Worten Tränen über die Wangen und jetzt stauten sie sich und liefen in Mengen ineinander. Ich konnte einfach nicht mehr.
Wieso traf mich dieses Schicksal?
Wieso nahm man mir auch das Letzte, was ich noch hatte?
Aus welchem Grund?
Mit welchem Sinn?
Genoss man da oben mir alles zu nehmen? Lachte man mich aus, weil ich jeden einzelnen Tag zu weinen beginnen würde, sobald auch sie ihren eigenen Grabstein bekam. Sie unter all den anderen.

Mein Schluchzen klang kriechend und röchelnd. Ich fiel zu Boden, sobald wir die Treppenstufen des Glaskastens hinuntergingen und den Gehsteig beliefen.
Meine Hände verdeckten meine Augen und ich spürte das Zittern meinen Körper durchfließen.

Mir war alles egal.
Egal, dass meine Schwester mich so schwach sah.
Egal, dass ich auf dem Boden herumkroch und heulte.
Egal, dass ich dabei jämmerlich aussah.

»Tears. Bitte steh auf!«, forderte Jane und zog an meinem Arm.
Aber wozu aufstehen?
Was würde passieren, wenn sie morgen stumm neben mir lag und mich nie wieder dazu aufforderte aufzustehen? Wer würde es dann tun? Wer würde mir die Tränen von der Wange wischen und mich umarmen?

Ich würde alleine sein. Endgültig.

»Tears!« Jane klang nun auch weinerlich. So klang sie nie.
Sie weinte nicht oft. Ganz im Gegensatz zu mir.
»Bitte«, hauchte sie gebrochen, begann zu husten und zog mich mit letzter Kraft zurück auf die Beine.
Mit glasigen Augen umfasste sie mein Gesicht und lehnte ihre Stirn gegen meine.
Verschwommen sah ich ihr entgegen. Sah die Sommersprossen auf ihren Wangen, sah das Muttermal unter ihrem linken Nasenflügel, sah die Rinnen ihrer Haut, die sich beim Lachen bildeten, sah ihre Narbe unter dem Auge. Das war Jane. So sah sie aus.
Meine Schwester.
Meine krebskranke Schwester.

»Zwei Wochen. Ich bitte dich, Tears. Gib mir diese vierzehn Tage und dann mache dich selbst frei.
Weine nicht mehr um mich und darüber, was mir und Dad und Mum und Grandma widerfahren ist. Lebe, für mich und sie alle.
Du bist die erste ohne dieses Teufelsschicksal und ich bitte dich, mein Engel, denke nicht zu viel nach. Wünsche dir nicht, dass alles wäre anders gekommen. Wünsche dir nicht die Kindheit oder jemanden vom Himmel zurück. Denke an uns, aber lebe nicht, als seiest du wir. Tears, hier geht es um dich. Ich möchte, dass du mir zwei Wochen gibst und dir danach dein Leben bis zum Ende. Koste es aus, genieße es und fülle es mit Erfahrungen. Schnapp dir diesen hübschen Mann, der dich zum Lachen gebracht hat, pflege deine Freundschaften mit den Jungs aus der Bar, geh abends wieder tanzen und Karaoke singen, iss morgens zum Frühstück wieder Waffeln mit Eiscreme und denke endlich wieder an dich selbst.
Wenn ich gehe, dann möchte ich, dass du aufstehst und weitergehst. An dieser roten Ampel gibt es für mich kein Grün, aber für dich schon. Und das musst du nutzen. Geh studieren, male wieder Bilder mit deinen Fingern und erfülle dir deine Träume. Lass dich von niemandem umwerfen und herumschubsen oder aufhalten, schon gar nicht von mir.
Wenn ich dich frei lasse, dann lass auch du dich frei und mach etwas aus dir. Du wirst groß werden, ich bin mir ganz sicher.«

»Ich liebe dich, Jane. Ich liebe dich und Mum und Dad. Ihr alle seid mehr wert als dieses Leben.«
»Wir wissen, dass du uns liebst. Ich weiß es. Und jetzt hör auf zu weinen. Ich gebe mir selbst noch vierzehn Tage und danach die Ewigkeit, das müssen wir nutzen. Let's Go! Wir suchen uns jetzt die nächst beste Eisdiele und kaufen uns die größte Waffel, die wir kriegen können. Wenn ich sterbe, dann mit dem prickelnden Geschmack von Melonen Eis auf meiner Zunge!«

Und damit zog sie mich voll Eifer durch die Straßen Seattles. Es stippelte und nicht viele Leute waren auf den Straßen unterwegs. Aber die Temperatur vom Vortag hatte auch beim Regenwetter nicht abgenommen. Es war schwül.
Einfach angenehm.

Als sie mir eine große Waffel in die Hand drückte und mich weiter zog, hatte ich mich langsam wieder gesammelt und erste klare Gedanken erfassten meinen Kopf.
Eigentlich war mir der Appetit vergangen. Ich wollte nie wieder etwas essen. Doch Jane sah mich mit einem solchen Druck in den Augen an, dass ich langsam zu essen begann.

Mir war nicht wohl. Ich wollte diesen Tag am liebsten umkehren und jeden anschreien, der in der Macht stand sie hier bei mir zu wahren. Doch niemand stand in der Macht Jane vor dem Tod zu retten und niemand würde sie hier auf der Erde halten. Nicht einmal ich.

»Jetzt zieh doch nicht so ein Gesicht, Tears. Wir wussten beide, dass diese Welt nicht für mich gemacht ist. Nicht für immer.«

Ja, aber ich wollte es nicht wahrhaben! Wie auch? Wie sollte ich diese Tatsache je zu akzeptieren beginnen? Das ging nicht.

»Ich will, dass du lächelst, wenn du an mich und dich und uns denkst. Du sollst strahlen wie die Sonne, bis du mir nach folgst, Tears. Lache für mich! Du sollst mich in guter Erinnerung behalten und damit genau das passiert, werden wir uns hier und jetzt etwas schwören.«

Ich nickte benommen und beobachtete mein Eis, wie es geschmolzen auf meine Hand tropfte. Ich wollte gar nicht hören, was sie mir jetzt zu sagen hatte, aber es war ein inniger Wunsch und ich würde alles tun, damit sie es leichter hatte.

»Wir werden von jetzt bis zu dem ewigen Morgen leben und lachen, als sei es unser letzter Tag im Leben. Versprich mir, Tears, dass du vergisst, was uns gesagt wurde und wir von jetzt an nur noch an schöne Dinge denken. Wir gehen schick essen, du stellst mir jeden deiner Freunde vor und wir gehen feiern und trinken Alkohol. Ich will ein neues Kleid haben und unter dem Sternenhimmel schlafen und im Regen tanzen. Bitte lass mich diese Krebsgeschichte vergessen und gut fühlen! Ich will leben und erfahren und dann will ich deine beste Erinnerung werden!«

Sie schien so begeistert und angetan von dieser Rede, dass ich unwillkürlich lächeln musste. Gequält, aber ehrlich. Ich liebte es, wenn sie redete. Ich liebte sie; ihre Art, ihren Charakter, ihr Lächeln, alles , mehr als mich selbst.

Jane war etwas ganz Besonderes. Auch die schwerste Last drückte sie nicht zu Boden. Sie war so unglaublich stark und es gab noch so viel, was ich von ihr zu lernen hatte. Sie war vielleicht jünger, aber die so viel bessere Schwester.
Sie war eine Kämpferin - meine ganz persönliche Heldin.

»Dann los!«, entfloh es mir und ich griff ihre Hand. Ich würde das hier ihr zu liebe tun. Ich würde ihr zu liebe leben und ihr zu liebe alles tun, damit sie im Himmel etwas zu erzählen hatte. Von jetzt an zählte nicht mehr ihre Gesundheit, die war sowieso im Eimer, jetzt zählte nur noch die Zeit.

Es tat weh, verdammt es tat unglaublich weh, aber nichts hätte mehr weh getan, als ihr diesen letzten Wunsch nicht zu erfüllen.

»Wir gehen dir jetzt sofort ein schickes Kleid kaufen und danach rufe ich Brian an und bitte ihn einen Tisch zu reservieren. Ich werde mir sobald, wir zu Hause sind freinehmen und dann gehen wir feiern, Kleines!«

Meine Stimme klang voller Eifer. Doch innerlich lag ich in tiefer Dunkelheit und konnte nicht fassen, wie verrückt das alles war. Scheiße. Einfach scheiße war dieses Leben.

»Ich liebe es, wenn du voller Tatendrang handelst. Deine Euphorie gefällt mir, Schwester!«

Jane schnappte sich meine Hand, drückte sie und dann liefen wir gemeinsam los. Im Hopserlauf hüpften wir über die Straße und den Bürgersteig entlang, die schiefen amüsierten Blicke der Passanten strahlend hinnehmend.

Für jetzt war mir nichts zu peinlich. Jane sollte etwas zu lachen haben. Sie sollte etwas erlebt haben und sie sollte gelebt haben.

Und genau damit fingen wir jetzt an.

TEARSWhere stories live. Discover now