Kapitel 9

98 9 1
                                    

Die Stunden verstreichen und ich vergrabe mich in meine Arbeit. Immer mehr Patientenakten finden ihren weg auf den Stapel der fertigen Akten und der Stapel der zu bearbeitenden schrumpft immer mehr. Ausgerechnet heute ist seit der Stadionprügelei heute morgen nicht mehr viel los. Nicht mal Kinder mit laufenden Nasen überfordern die Notaufnahme und auf der Station ist auch alles ruhig. Außer den Akten gibt es also nichts anderes, mit dem ich meine Gedanken ablenken kann und das ist nicht besonders effizient, denn es fordert mein Hirn nicht so heraus, dass es alle anderen Gedanken überdeckt. Ich muss die ganze Zeit an sie denken. An Beverly in dem riesigen Bett, verloren und allein. Natürlich ist Julian bei ihr. Solange er nicht unbedingt gebraucht wird, wird er sie keine Sekunde aus den Augen lassen und solange er bei ihr ist kann ich nicht zu ihr, auch wenn ich es gerne würde. Ich würde so gerne sehen wie es ihr geht, ob sich ihr Herz inzwischen zumindest ein bisschen beruhigt hat. Aber ich kann nicht. Julian würde es nie erlauben und ich will nicht mit ihm streiten, denn es hätte keinen Sinn. Er würde es mir nicht glauben, egal was ich sage. Also lasse ich es bleiben. Seufzend bemerke ich, wie ich wieder unruhiger werde, die Sorge wieder die Oberhand zu gewinnen scheint und ich stehe auf, um ein paar Schritte zu gehen, zu gucken, ob es vielleicht irgendetwas gibt, was ich tun kann, irgendetwas, wo ich mich nützlich machen kann. Ich brauche doch nur irgendwas, dass mich ablenkt. Das mich davon ablenkt, dass Beverly bewusstlos ist und nur Julian bei ihr ist um sich um sie zu kümmern, auch wenn er keinen klaren Gedanken fassen kann und damit eigentlich nicht in der Lage ist auf sie aufzupassen. Aber ich habe keine Handhabe gegen ihn und solange Beverly nicht alleine zuhause ist ist, sind genug Ärzte hier um das schlimmste zu verhindern. Solange er nur nicht auf die Idee kommt sie gehen zu lassen. Aber so dumm kann er doch nicht sein, auch wenn er sie so sehr liebt.

Seufzend gehe ich durch die Korridore, in denen die Schwestern und Pfleger geschäftig von Zimmer zu Zimmer gehen und Essen und Medikamente verteilen. Gerne würde ich ihnen helfen, einfach nur, um beschäftigt zu sein, aber da würden sie denken, dass ich ihnen nicht zutraue es alleine zu schaffen. Außerdem haben sie ihr eigenes System und da will ich ihnen nicht rein pfuschen. Gedankenverloren gehe ich die Gänge entlang, ohne wirklich darauf zu achten, wohin meine Füße mich tragen. Alles fühlt sich irgendwie fremd und fern an, als wäre ich nicht wirklich hier.

Wie von selbst stoppen meine Füße vor einer der vielen Türen, hinter denen sich die Patientenzimmer verbergen. Ich muss nicht aufsehen, um zu wissen, dass es Beverlys ist. Wohin sollte ich auch sonst gehen? Schließlich ist sie es, die die ganze Zeit in meinem Kopf ist. Ich höre Julians Stimme leise durch die Tür hindurch, wie er sanft mit ihr spricht, sie anflehte aufzuwachen. Er verspricht ihr, dass er alles tut, was sie will, wenn sie nur aufwacht. Als würde es etwas bringen. Sie ist bewusstlos. Sie hört ihn nicht. Außerdem wird sie nur nach Hause wollen, sobald sie aufwacht und das kann er doch nicht zu lassen. Egal was er ihr jetzt verspricht, er wird es nicht halten können. Aber sie hört ihn ja nicht. Er wird die Versprechen nicht halten müssen. Aber alle Versprechen dieser Welt werden nicht dazu führen, dass sie aufwacht.

Er schluchzt leise, ich kann es durch die Tür hören. Es ist herzzerreißend. Fast schon tut er mir Leid. Er liebt sie mehr als ich es jemals begreifen werde und er leidet darunter, dass es ihr so schlecht geht. So geht es allen, die gemerkt haben, dass Beverly hier ist. Alle machen sich sorgen. Sie ist schließlich eine faire und unglaublich freundliche und hilfsbereite Chefin. Es ist nur natürlich, dass sie sich um sie sorgen.

In dem Zimmer wird ein Stuhl gerückt und schnelle Schritte kommen auf die Tür zu. Nur knapp schaffe ich es ein paar Schritte zurück zu gehen, bevor die Tür aufgeht und Julian aus dem Zimmer stürmt, die Augen voller Tränen. Fast hoffe ich, dass er mich nicht bemerkt, ich einfach unbemerkt in Beverlys Zimmer huschen kann. Aber es sollte nicht sein. Julian bemerkt mich, sieht mich wütend aus seinen tränen verhangenen Augen an. „Was willst DU hier Janet? Lass sie in Ruhe! Sie braucht dich nicht. Sie liebt mich!", Julian schreit mich an, sieht mich verzweifelt, mit seinen tränenverhangenen, kalten Augen an, während er es tut. Ich gehe auf ihn zu. Stelle mich direkt vor ihn, aber ich bin nicht wütend, sehe ihn einfach nur ruhig an. „Julian. Du saßt so lange bei ihr. Du brauchst eine Pause. Bitte. Lass mich ein bisschen zu ihr. Ich weiß, dass ihr zusammen gehört. Aber ich sehe in ihr eine gute Freundin. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und du bist ein guter Freund Julian. Ich würde das niemals aufgeben wollen. Verstehst du das? Ich will euch beide doch nur unterstützen. Warum willst du mir das nicht glauben?" Ich sehe ihm tief in die Augen, lege sogar eine Hand au seine Wange, ziehe ihn in eine Arme, als die Tränen kommen. Er macht sich so große Sorgen. Er hat solche Angst, weil es Beverly so schlecht geht. Er liebt sie so sehr. Wie könnte ich ihm da in die Quere kommen? Außerdem ist Beverly doch eine Frau und die Liebe habe ich aus meinem Leben verbannt. Ich sollte jetzt für Julian da sein. Für Julian und Beverly. Die beiden brauchen mich jetzt. Als objektive Ärztin, die sich um Beverly kümmert, weil Julian zu emotional ist, um Entscheidungen zu treffen. „Es wird alles gut Julian. Ich bin für euch da", flüstere ich und streiche dem Erwachsenen Mann beruhigend über den Rücken. „Geh etwas essen Julian. Ich bleibe solange hier. Ihr wird es gut gehen. Das verspreche ich dir." Ich weiß, dass ich solche Versprechen nicht machen dürfte. Immerhin wissen wir ja nicht einmal, was ihr fehlt. Wie sollte ich da sagen können, dass es ihr auf jeden Fall gut gehen wird. Aber so sehr wie Julian das glauben möchte, möchte ich es auch. Ich will doch auch glauben, dass Beverly schnell wieder gesund ist. Julian nickt und soweit ich es beurteilen kann, ist der Blick den er mir zuwirft sogar dankbar. Vielleicht war seine Reaktion auf mich ja einfach nur der Anspannung geschuldet. Das ist schließlich vor allem für ihn eine Ausnahmesituation. Er drückt ganz sanft meine Hand, bevor er sich zum Gehen wendet. „Du gibst mir bescheid, wenn irgendetwas..." Er muss den Satz nicht beenden, denn ich nicke, versichere ihm, dass ich ihm sage, wenn etwas ist. Er nickt und geht. Lässt mich vor dem Zimmer zurück.

Als wäre sie zerbrechlich lege ich meine Hand ganz vorsichtig auf die Tür zu Beverlys Zimmer. Sie scheint warm zu sein, unter meiner Hand zu vibrieren, auch wenn ich weiß, dass es vollkommen unmöglich ist, schließlich ist die Tür aus hartem Holz. Ich zögere sie zu öffnen. Ich habe Angst, was ich sehen werde, wenn ich sie wirklich öffne. Soetwas kenne ich von mir nicht und es macht mich zusätzlich unsicher. Ich kann nicht mehr klar denken und das ist mir in all den Jahren beim Militär nie passiert. Nicht ein mal. Kein Zögern, keine zweiten oder gar dritten Gedankengänge dazu. Ich habe es einfach gemacht. Egal was das Risiko war. Und jetzt zittert meine Hand, als ich die Tür langsam öffne. Was passiert bloß mit mir? Das ist alles so verwirrend. Sobald die Tür offen ist, fällt mein Blick zuerst auf das Bett, das fast das ganze Zimmer auszufüllen scheint. Die Bettdecke hebt und senkt sich langsam, aber gleichmäßig und mein Blick, der sofort zu dem Monitor schnellt, verrät mir innerhab von sekunden, dass die sauerstoffsättigung in Ordnung ist. Zwar nicht optimal, aber in der Norm, genauso wie Puls und Blutdruck. Alles in ordnung. Erleichtert atme ich aus und merke da erst, dass ich die Luft angehalten hatte. Langsam gehe ich auf das Bett zu und lasse mich auf den Stuhl neben dem Bett sinken. An Beverlys Anblick hat sich nichts verändert. Noch immer ist sie so bleich wie das Kissen, auf dem sie liegt. „Oh Beverly", flüstere ich und nehme ihre Hand, ohne das ich es wirklich merke. Es passiert einfach. Sie ist so wunderschön. Ihr Haar liegt aufgefächert auf dem weißen Kissen. Es wirkt, als läge ihr Kopf in einem Meer aus flüssigem Feuer.

Halt, was ..... Was.... denke ich denn da bloß? Das ist doch unsinn!

Ich würde gerne meinen Blick von ihr abwenden, aber ich kann es nicht. So sehr ich es auch können möchte, es geht nicht. Also bleibe ich hier bei ihr sitzen und sehe auf ihr wunderschönes, sanftes Gesicht und wünschte ich könnte denken, sie würde nur schlafen. Ich wünschte ich könnte einfach vergessen, dass sie krank ist, bewusstlos. Aber ich kann es nicht. Nicht für eine Sekunde.

Stay with meWhere stories live. Discover now