(6) Memoria

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Während die Schauspieler auf der provisorischen Holzplatte, die in den Augen der beiden Mädchen ihrem Talent nicht entsprach, das Stück aufführten, waren sie so gefesselt von der Geschichte, dass sie die Blicke, zu viele, als das es sich dabei nur um ein zufälliges kurzes Streifen handeln konnte und zu wenige, als das sie aus der großen Menschenmenge herausstachen, die stumm auf ihren Gestalten anstatt auf der Bühne ruhten, nicht bemerkten.
Doch als aus dem leichten Nieselregen, der mitten in der Aufführung einsetzte, mehr und mehr ein starker Schauer wurde, bis man durch die gewaltigen Wassermassen nicht einmal die dunkelste Sturmwolke erkannte, stürmte ein Mann auf die Bühne, der wild mit seinen Armen und Händen herumwirbelte, um zu zeigen, dass das Stück nun zu Ende sei. Ob es nun abgebrochen wurde oder wirklich beendet war, wusste keiner, aber interessieren tat das die meisten auch nicht. Denn jeder war nur noch drauf und dran, einen trockenen Unterschlupf zu finden.
So auch die beiden Mädchen. 
Aber nicht nur das beunruhigte sie.
Während Sofia alle Konzentration dazu verwendete, um nicht über ihre eigenen Beine zu stolpern, entging Camila nicht, dass drei Männer an jedem Laden, in welche die meisten panisch hineinflüchteten, unbeirrt vorbeirannten, den Blick starr auf Sofia und sie gerichtet. Um ihre aufkeimende Vermutung zu testen, bog Camila, Sofia an der Hand hinter sich herziehend, in die nächste Seitenstraße, nur um dann wieder rechts in eine schmale Gasse einzubiegen, deren Ausgang die überfüllte Hauptstraße war. Ein flüchtiger Blick genügte, um alle Sinne Camilas in höchste Alarmbereitschaft zu versetzten. Die drei Männer von vorhin waren außer Sichtweite, allerdings nahm sie im Augenwinkel wahr, wie sich etwas oder höstwahrscheinlich jemand, in der dunklen Gasse bewegte. So kurz dieser Moment auch gewesen war, fühlte sich Camila in ihrer Vorahnung genügend bestätigt. 
Jemand verfolgte sie. Und dieser Jemand war zu stämmig, als das er durch den Ausgang der Gasse, ein winziger Spalt, passte, durch den Sofia und sie gerade noch hindurchgeschlüpft waren.
Kurz warf Camila einen besorgten Blick zu ihrer Schwester, die von alle dem scheinbar noch nichts mitbekam, doch täuschte der Eindruck. Sofia ahnte etwas. Denn dieses eine Gefühl, welches nur zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt über ihr hereinbrach und ihr mehr Angst einjagte als alles andere auf dieser Welt, ergoss sich über sie, vermischte sich mit dem kalten Regenwasser und drang so in alle Stellen ihres Körpers ein. Von den Haarspitzen bis ihn die Zehen durchströmte das kleine Mädchen die pure Furcht, die sie zum Zittern brachte wie Espenlaub, aber gleichzeitig all ihre Instinkte weckte. In solchen Moment würde sie sich am liebsten in ihrem Schrank verstecken, sich ganz klein zusammenrollen und nie mehr wieder hervorkommen. Allerdings gab es hier weit und breit keinen Schrank, weswegen ihr nur noch eines half – Flucht. Und so hoppelte sie wie ein vom Wolf gejagtes Häschen davon.

Mittlerweile rannten die beiden Hand in Hand von Seitenstraße zu Seitenstraße, immer wieder panisch einen Blick nach hinten werfend. Ihre Kleidung klebte nass an ihren Körpern sowie ihre langen Haare. Das Atmen bestand nur noch aus einem unregelmäßigen nach Luft japsen. Die Füße schmerzten von dem vielen gehen und die Kälte vertrieb jegliche Wärme aus ihren Körpern.
Doch hatten die beiden ein festes Ziel, das es unter allen Umständen zu erreichen galt. Wenn sie dort ankämen, beide Füße über die Türschwelle gesetzt, dann wären sie in Sicherheit. Aber hier draußen drohte die Gefahr – die Gefahr, aufzufliegen und noch schlimmer, geschnappt zu werden. Die Angst davor, was danach auf sie zukommen würde, war das einzige, was die Mädchen noch antrieb. 

Nach gefühlten Jahrzenten, die sie durch nasskalten Schlamm gewatet sind, der eigentlich ein kleiner Trampelpfad war, erkannten sie endlich, wenn auch nur schleierhaft, die groben Umrisse eines Hauses. Bei diesem Anblick fiel die gesamte Anspannung von ihnen ab und Freude sowie Erleichterung ließen beide langsamer werden, bis sie schließlich stehen blieben. Sie konnten bereits die dunkle Holztür erkennen, das spitze Dach, das mit roten Ziegelsteinen abgedeckt war und die Fenster, als sich plötzlich zwei starke Arme um Sofia schlangen und sie mit einem kräftigen Ruck aus Camilas Griff zerrten. Geschockt rissen beide die Augen weit auf. Überrumpelt brachet keine einen Ton heraus. Doch Camila fasste sich schnell und stürzte sich mit einem wütenden Aufschrei auf den großen Mann, der Sofia nun in seinem Griff hatte. Wie eine Furie sprang sie auf seinen Rücken, auf den sie mit aller Kraft einhämmerte, die sie noch besaß, während Sofia wild um sich schlug. 
„Lass meine Schwester sofort los!“, brüllte Camila, „Ich lasse nicht zu, dass ihr sie mitnehmt. Wenn du sie haben willst, musst du erstmal an mir vorbei!“
Von der Situation überrumpelt, schien der Mann kurzeitig seine Fassung verloren zu haben. In diesem Moment traf Sofias Faust das Kinn des Fremden, von dem ein leises Stöhnen zu hören war, bevor sein Griff sich lockerte. Sofort sprang Sofia aus seinen Armen, schnappte sich Camila, die dem Torkelnden noch einmal kräftig in den Schritt schlug und rannte mit ihr so schnell wie möglich auf das Haus zu. Hinter ihnen hörte man das laute Trampeln des Mannes.
„Bleibt gefälligst stehen, ihr Blagen!“, schrie eine Stimme hasserfüllt auf, was die Mädchen noch mehr dazu veranlasste, die Beine in die Hände zu nehmen. Es waren nur noch ein paar Meter, die sie von dem Haus trennten. Camila hatte schon das kalte Metall der Türklinke unter den tauben Fingerkuppen gespürt, doch ein kräftiger Ruck an ihrem Arm zog sie nach hinten, weit weg von der sicheren Türschwelle. Blitzschnell jagte ihr Kopf nach vorne, wo Sofia stand, doch war sie nicht alleine. Die Frau mit den grauen Augen, welche vorhin mit Sofia auf dem Marktplatz sprach hatte sie am Handgelenk gepackt und zog kräftig an diesem.
„Wir hatten euch gesagt, dass ihr nicht ohne Erlaubnis einfach das Heim verlassen dürft. Was seid ihr auch so dumm und hört nicht darauf. Eure Eltern haben bei der Erziehung kläglich versagt.“, sprach die Frau höhnisch, während sie versuchte Sofias Griff um die Hand ihrer Schwester zu lösen. Dabei zog sie mit solch einer Kraft an ihrem Arm, dass es sich anfühlte, als würde sie diesen gleich abreißen, was ihr die Tränen in die Augen trieb. Doch ihre kleine Hand hielt Camilas weiterhin umklammert, aber mit jedem zerren an ihrem rechten Arm, rutschte ihre Hand immer weiter, wenn auch nur wenige Millimeter, weg von Camila. 
„Ich werde dich jetzt mitnehmen, Sofia, und dir beibringen, wie man sich anständig benimmt. Hier bist du sowieso zu vielen negativen Einflüssen ausgesetzt, mein Kind.“, sprach die Frau weiter, ihr hasserfüllter Blick ganz auf Camila gerichtet. 
„Ich will aber nicht! Ich will bei Camila bleiben! Sie ist die einzige Familie, die ich noch habe. Ich brauche sie.“, mischte sich nun Sofia ein. Das flehen in ihrer Stimme ließ Camila sofort aufspringen, die bisher nur geschockt und bewegungsunfähig im Dreck sitzend zugesehen hatte. Mit beiden Händen packte sie Sofias linken Arm. 
„Ich werde nicht zulassen, dass ihr sie mir wegnimmt. Ihr könnt uns niemals trennen.“, schrie nun Camila wutentbrannt. 
„Niemand kann uns jemals trennen!“
„Nicht einmal der Tod!“
„Ach ja, das glaubt ihr wohl selbst nicht, ihr Gören!“, erklang nun die Stimme, welche ihnen vorhin hinterhergeschrien hatte. 
Erschrocken drehte sich Camila um, und starrte direkt in das Gesicht des Mannes, der sie überfallen hatte. Hasserfüllt starrte er Camila an, die Augen zu winzigen Schlitzen verengt. Wie eine riesige Wand bäumte er sich vor dem winzigen Mädchen auf. Die Hände waren zu Fäusten geballt und die Adern traten bereits unter seiner Haut deutlich hervor. 
„Schaff das Balg hier weg! Es macht nur Ärger!“, befahl die Frau dem Riesen. Sofort bildete sich ein verschmitztes Lächeln auf den schmalen Lippen. Langsam beugte er sich nach unten, erkannte wie Camilas Augen immer größer wurden und ihr ganzer Körper zu zittern begann. Er genoss diesen Anblick.
„Nein! Lass meine Schwester in Ruhe! Fass sie nicht an oder du kriegst es mit mir zu tun!“, schrie Sofia los, „Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, dann-“
Weiter kam Sofia mit ihren Worten nicht, denn eine kalte Hand, dieselbe Hand, die sich vorhin bereits auf ihre Schulter gelegt hatte und einen Schauder durch ihren Körper gejagt hatte, legte sich nun auf ihrer Mund. Blitzschnell sauste ihr Kopf nach hinten, wobei ihre nassen Haare mitschwangen und sich einzelne Strähnen über ihre Augen legten, sodass sie ihr gegenüber nur noch abgehackt erkannte, wie ein völlig falsch zusammengesetztes Puzzele, bei dem einige Teile fehlten. Die grauen Augen bohrten sich durchdringend in ihre, dieser Blick nahm all ihre Sinne in Anspruch. Sofia spürte Wärme und Kälte zur selben Zeit, in ihren Ohren ertönte wildes rauschen, ihr Mund war ausgetrocknet, sie konnte sogar die Macht riechen, welche von dieser Frau ausging. Als sich ihre Lippen zu bewegen begannen, setzte all das aus. Ihr war nicht mehr kalt oder gar warm, kein Geruch drang in ihre Nase und ihr Mund war versiegelt. Nur ihre Augen und Ohren funktionierten noch.
„Du brauchst Camila nicht, sie tut dir nicht gut. Und Familie sollte einem immer guttun. Also lass los.“ Diese Worte und die sturmgrauen Augen brannten sich für ewig in ihr Gedächtnis ein. 
Wie von selbst lockerte sich Sofias Griff, bis ihr Arm schlapp hinunterfiel. 
Augenblicklich ergriff der Mann Camila und trug sie fort. 
Das letzte, was Sofia noch wahrnahm, waren die Worte Camilas: „Denk daran, niemand kann uns trennen. Niemand. Nicht einmal der Tod.“

Das war der letzte Tag, an den sich Sofia erinnern konnte, an dem sie so etwas wie Freude und Freiheit verspürt hatte und sogleich der letzte Tag, den sie noch mit Camila als Kind verbracht hatte. Wobei sie beide damals bereits nicht das klassische Paradebeispiel für typische Kinder waren: Kein großes Herumalbern, keine Schlachten um Süßigkeiten, kein unter der Decke verstecken, weil es draußen gewittert, stattdessen vorsichtiges Schweigen, ständige Wachsamkeit, unter der Decke verstecken, weil man hofft, dass die Alpträume nicht unter dieser hindurchschlüpfen können. So war es meistens, doch in den kleinen flüchtigen Momenten, da konnten sie einfache Kinder sein, frei und fröhlich herumtollen, lachen, Spaß haben und alles machen, was sie wollten. Dann gehörte ihnen die Welt. 
So wenige dieser schönen Augenblicke es auch gewesen waren, jeden einzelnen hatte sie genossen und jeder davon war mit Camila.
Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, fast schon genießerisch warf Sofia den Kopf in den Nacken. Niemals würde sie diesen traurigschönen Tag vergessen können, mit all samt seinen Bescherungen: Das Theaterstück. Die frische Luft. Die strahlende Sonne. Das Lächeln ihrer Schwester, als sie vorfreudig mit Karacho auf ihr Bett gesprungen ist, sich im Schneidersitz hingesetzt hatte und hibbelig von rechts nach links schwankte. Als Camila dann meinte sie würden jetzt einen Ausflug unternehmen. Die Glücksgefühle, die dabei langsam in ihr hochstiegen und ihr nicht nur ein breites Grinsen ins Gesicht meißelten, sondern auch den Gedanken in die hinterste Ecke ihres Kopfes schoben, dass ihnen verboten worden war, hinauszugehen. Doch in diesem Moment wollte sie damals wahrscheinlich gar nicht mehr daran denken, denn es war einer dieser Augenblicke, in denen es nur sie und Camila gab.
Der Rest des Tages war Geschichte, jedoch eine, die ihr bis heute noch schlaflose Nächte bereitete.

Schnellen Schrittes ging Sofia auf die hinterste und abgelegenste Ecke des Friedhofs zu. Dort war nicht mehr als ein einziges Grab. Es war im Vergleich zu den anderen Gräbern wesentlich kleiner und auch schlichter geschmückt. Um die Stelle, wo der- oder diejenige liegen musste, waren kleine Kieselsteine in quadratischer Form ausgelegt, jedoch konnte man an den kleineren und größeren Lücken erkennen, dass bereits mehrere fehlten. Am Ende des Kieselquadrats stand ein Kreuz aus Holz, dass schief in die Erde gerammt wurde. An das Kreuz war ein Schild, ebenfalls aus Holz, dürftig mit zwei bis zur Hälfte hineingehämmerten Nägeln befestigt. In dieses wurde das Wort „Unbekannt“ mit großen Druckbuchstaben hineingeschnitzt. 
Vor dem Grab angekommen machte Sofia halt, faltete die Hände ineinander, schloss die Augen und neigte den Kopf leicht nachunten. Kurz hielt sie inne. Sofort, wie so oft auch, schoss ihr diese eine Frage in den Kopf, dieser eine Gedanke, der sie wie ein Schatten zu verfolgen schien. 
Vielleicht wäre es nie soweit gekommen, dachte Sofia, öffnete die Augen und blickte auf die verdorrte Rose, die mitten in dem Quadrat auf der trockenen Erde lag. Schnell griff Sofia nach dieser, warf sie achtlos zur Seite und legte vorsichtig die strahlendrote Rose, die sie die ganze Zeit in ihrer Hand gehalten hatte auf den Platz, wo gerade noch die andere Pflanze war. Dann wendete sie sich zum Gehen.
Vielleicht wäre es nie soweit gekommen, wenn sie damals ihre Bedenken nicht einfach verdrängt, sondern auf diese gehört hätte, doch war das nicht das normalste für ein Kind?

Die junge Frau hatte bereits den Friedhof verlassen, als hinter einem Baum ein grauhaariger Mann hervorkam. Sein Blick war zuerst auf das unbekannte Grab gerichtet, dann haftete er sich an die Gestalt mit den blonden Haaren, die sich in Richtung Stadt begab. Dieser Ort war bereits bis zum Anschlag mit Traurigkeit gefüllt, doch ihr Erscheinen hat das Fass zum Überlaufen gebracht.
„Pace, kannst du bitte Mondo Bericht erstatten?“, sprach der Grauhaarige, ohne auch nur in die Richtung zu schauen, wo der Angesprochene nun hinter einem anderen Baum hervorkam. Er hatte Angst, wenn er nun auch nur für eine Sekunde wegsehen würde, wäre sie verschwunden. 
„Natürlich! Ich werde ich mich beeilen!“, kam die enthusiastische Antwort von hinten. 
Keine Sekunde später machten sie sich auf den Weg.

Diamante di Luce [Arcana Famiglia]Where stories live. Discover now