(1) Minta

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„Nicht schon wieder.“, hörte man es aus dem großen Versammlungsraum der Villa der Arcana Famiglia seufzen.
Es war der frühe Morgen nach dem gestrigen Vollmond und damit auch eine Woche, seitdem der verehrende Brand über den wunderschönen Hafen Regalos wütete.
Doch heute hatten sich alle großen Arcana aus einem ganz anderen Grund eingetroffen, ausnahmslos. Selbst der sonst so zurückgezogene Jolly ist einmal aus seinem Labor hervorgekrochen, um den anderen bei ihrer kleinen Gesellschaft beizuwohnen. Ein wirklich seltener Gast. Ob es nun Schadenfreude über das Versagen seiner Kameraden war oder wirkliches Interesse, konnte man nur erahnen.
„Wie kann das bloß möglich sein? Er war alleine. Umzingelt. Von zwölf Männern. Sehr starken Männern.“, hauchte der blauhaarigen Nova fassungslos.
„Elfeinhalb Männern um genau zu sein. Liberta ist nur ein halbes Früchtchen.“, spottete der Grauhaarige noch im selben Atemzug. Anders als seine Mitstreiter wirkte er wesentlich entspannter. Während die meisten nachdenklich die Stirn kräuselten oder angespannt die Stuhllehnen umklammerten, saß er locker auf einem Holzstuhl, die Beine überkreuzt auf einem der kleinen Tische abgelegt. Bei seinem unpassenden Kommentar spürte er die missbilligenden Blicke erbarmungslos auf sich niederregnen, aber als Sumire das schiefe Grinsen auf dem Gesicht Debitos erkannte, wurden ihre sturmgrauen Augen klar.
„Du glaubst, etwas zu wissen, nicht wahr?“, sprach sie ihre Gedanken laut aus. 
Kaum merklich zuckten seine Mundwinkel weitere wenige Millimeter nach oben. Dann öffnete er das Auge, das bisher geschlossen war, damit das grelle Licht der Sonne ihn nicht blendete und starrte in verdutzte Gesichter. Niemand von ihnen hatte auch nur den bloßen Hauch einer Ahnung, was Debito aus der simplen Schilderung von Dante entnehmen konnte, weshalb sie nervös, die Augen kugelrund vor Überraschung, auf ihren Plätzen hin- und her rutschten, wobei Liberta um ein Haar auf den Boden geplumpst wäre, hätte das Mädchen mit den zwei Seitenzöpfen nicht schnell genug reagiert und ihren Freund aufgefangen. 

Als der Grauhaarige gerade stolz mit seiner Erklärung beginnen wollte, um so endlich die Zahl der Verdächtigen zu halbieren, wurde er aus seiner Konzentration gerissen. Sofort huschte sein flinker Blick zu dem offenen Fenster. 
Direkt daneben stand seit Jahren eine riesige alte Eiche, deren Äste fast die Glasscheiben berührten. Genau dort hätte er schwören können, eine Gestalt erkannt zu haben, die sich versuchte in dem sicheren Blätterdach, verdeckt zu halten. Auch die anderen schauten nun hinüber, aber konnten sie wohl nichts Verdächtiges erkennen, da sie ihre Aufmerksamkeit sogleich wieder dem Mann mit der Augenklappe schenkten. Daher wendete auch er schließlich seine Augen von dem Fenster ab, nicht ohne noch einmal einen letzten prüfenden Blick über die Schulter zu werfen. 

Hätte Debito sich die Mühe gemacht, zu dem offenen Fenster hinüber zu gehen, so wäre ihm vielleicht die junge Frau aufgefallen, die dort auf einem der dicken Äste kauerte. Die langen weizenblonden Haare hatte sie teils zu einem kleinen Zopf zusammengebunden, während der Rest frei umherwirbelte. Ihr schmaler Körper wurde von einem schweren schwarzen Mantel umhüllt, um so weiter mit den dunkeln Schatten zu verschmelzen. Nur die riesige Kapuze wäre bei diesen unmenschlichen Temperaturen einfach zu erdrückend gewesen, weshalb die klaren eisblauen Augen stark unter der silbernen Maske hervorblitzen. Völlig starr, wie eine Puppe, waren ihre Augen auf den jungen Grauhaarigen gerichtet. Nicht nur, dass er sie bemerkt hatte, auch schlussfolgerte er anscheinend etwas aus den Erzählungen der eineinhalb Männer. 
Kurz schlich sich ein trauriges Lächeln auf die Lippen der Frau. Seine Wortwahl fand sie schon immer interessant und irgendwie auch witzig. 
Doch musste sie nun besondere Vorsicht walten lassen, denn sonst würde die Ära der Perla della Notte ein schnelles Ende finden. 

„Rückst du jetzt endlich raus mit der Sprache?“, zog Nova wieder die Aufmerksamkeit aller auf Debitos Worte. Dieser setzte sich darauf gerade hin und blickte jedes einzelne Mitglied tief in die Augen, bevor er das Geheimnis lüftete. 
„Dieser Dieb, ist kein Dieb, sondern eine Diebin.“ 
Ungläubiges Schweigen setzte ein, bis Mondo wieder das Wort ergriff: „Woher willst du wissen, dass sie ausgerechnet eine Frau ist?“ 
Das würde auch die heimliche Zuhörerin gerne erklärt bekommen. Ihre Neugierde war so groß, dass sie sich sogar immer mehr aus dem sicheren Schatten hinauswagte, um das Gesprochene besser verstehen zu können, sodass bereits vereinzelte Haarsträhnen im Licht der Sonne golden schimmerten.

„Ganz simpel, es gibt nur wenige Wesen, denen es gelungen ist, mich oder andere Männer nur durch reine Bewegungen völlig in ihren Bann zu ziehen und das waren stets Frauen.“, erklärte nun der Grauhaarige seine Schlussfolgerung. Während er von den meisten ein zustimmendes Nicken erhielt, brannte in den grünen Augen Felicitas pure Skepsis. 
„Warum sollte sie so etwas machen? Dadurch verliert man doch als Frau seine Würde, wenn man einfach jeden Mann ohne Grund antanzt. Und außerdem hat sie doch schon in der Vergangenheit bewiesen, dass es für sie kein Problem ist, aus solch einer Situation herauszukommen. Warum riskiert sie also plötzlich so viel?“
„Ach Bambina“, entgegnete nun Debito, „du bist ja noch so unschuldig. Du musst wissen, dass Frauen sich gerne mit ihren Reizen ein klein wenig in Szene setzten, dass macht sie nämlich interessanter. Eines Tages wirst du das auch verstehen können und ich bezweifle das ‚antanzen‘ hier das richtige Wort ist, sie hat eher mit ihnen gespielt. Aber das eben auf ihre eigene besondere Art und Weise.“  
Die Rothaarige war immer noch nicht überzeugt, doch beließ es schließlich dabei. Sie wollte sich nicht auf diese sinnlose Diskussion einlassen, schob jedoch so leise wie möglich hinterher: „So etwas würde ich niemals machen.“

„Aber was sollen wir jetzt mit dieser Vermutung anstellen? Es gibt unzählige Frauen auf der Insel Regalo. Uns ist noch nicht mal bekannt, wie sie aussieht.“, sprach Luca aus, was alle dachten, auch Debito wusste keine rechte Antwort auf diese Frage. Nur das weibliche Familienoberhaupt schien noch etwas aufgefallen zu sein, was jedem anderen entgangen war.
„Es gibt da noch eine Möglichkeit.“
„Welche denn?“, fragten nun alle verdutzt im Chor.
„Dante, hattest du nicht gesagt, als sie euch nähergekommen war, den Geruch von Minze wahrgenommen zu haben.“
Ein leichtes Nicken von Seiten des Glatzkopfes bestätigte es. 
Wieder erfüllte eine fast greifbare Spannung den Raum. Selbst die junge Frau am Fenster spürte es. Ihre Finger hatten sich fest in die Rinde der Eiche gekrallt, als hätte sie Angst, sie würde jede Sekunde den Halt verlieren.
Dann sprang plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung ein Mann mit Brille und verstrubelten Haaren auf dem Kopf mit Schwung auf, sodass sein Stuhl mit voller Kraft nach hinten geschleudert wurde und geräuschvoll auf dem Boden aufkam. Ihn jedoch schien es nicht zu stören, stattdessen strahlte er die Mitglieder, wie es ihm nur die Sonne an den schönsten Sommertagen nachahmen konnte, an.
„Ich weiß es, Mama!“
Erwartungsvoll musterten die großen Arcana den Braunhaarigen, dieser räusperte sich kurz, bevor er anfing zu sprechen. 
„Dieser Minzgeruch stammt wahrscheinlich von einem Parfüm und auf ganz Regalo gibt es nur eine Parfümerie.“
„Dann sollten wir schnellstens mit der Besitzerin des Ladens reden!“, verkündete Mondo mit einem vorfreudigen Glitzern in den grünen Augen. „Debito und Pace, ihr macht euch schleunigst auf den Weg!“
Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen. Mit eiligen aber auch festem Schritt rannten sie auf die große Flügeltür zu, doch der Kopf des Grauhaarigen wanderte noch einmal wie von selbst zu dem großen Fenster. 
In diesem unbedeutenden Moment blitzte etwas Silbernes unter dem dichten Blattgrün hervor und etwas Pechschwarzes schien sich aus den regungslosen Schatten zu lösen. Doch nun war keine Zeit. Denn in ihm keimte das Gefühl auf, dass sie nicht die einzigen wären, die dringend einen gewissen Laden in der Innenstadt einen Besuch abstatten müssten.



Diamante di Luce [Arcana Famiglia]Where stories live. Discover now