6. Krückenstunts und Chipsfrühstück

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Wann ist der denn bitte eingestiegen?

Mein Ego springt auf und vollführt einen Freudentanz. Aber äußerlich bemühe ich mich cool zu bleiben, so gut es mit Gollumfresse und Krüppelfuß eben geht.

Ich frage mich, wie man in aller Welt so gut aussehen kann - ich kann meinen Blick nicht länger als ein paar Sekunden von ihm lösen, bevor ich ihn wieder beobachte. In einer fast schon eleganten Bewegung zieht er sich seine gelbe Mütze vom Kopf, die mir noch gut in Erinnerung ist und fährt sich kurz durchs Haar, das durch die Mütze ganz verstrubbelt ist und in alle Richtungen absteht. Wie gern ich da jetzt mit meinen Fingern durchfahren würde.

Jetzt packt er ein Buch aus seinem Rucksack aus, das mir sehr bekannt vorkommt. Er schlägt Die Arena im hinteren Viertel auf und ich muss mich wirklich bremsen, um diesem Zufall nicht zu viel Bedeutung zuzuschreiben. Es ist faszinierend ihm zuzusehen, denn man merkt richtig, wie er in die Welt unter der Kuppel eintaucht und alles um sich herum ausblendet.

Ich habe echt den perfekten Platz zum Stalken, fällt mir auf. Ich kann ihn beobachten, aber er müsste sich halb umdrehen um mich zu sehen. Was er partout in dem Moment macht, in dem mir der imaginäre Sabber den Mundwinkel runter läuft. Mit seinen grauen Augen schaut er mich direkt an, und ich wende gaaanz schnell den Blick ab. Peinlich!, kräht mein Ego. Oh, und wie peinlich das war.

Ich frage mich, ob er sich an mich erinnert - an das schusselige Mädchen, dem er das Handy vom Boden aufgehoben hat.

Aber das bezweifle ich, und wahrscheinlich ist es auch besser so.

Den Rest der Fahrt halte ich den Blick starr aus dem Fenster gerichtet, und wechsle von meiner Playlist zu Metallica, was eher meiner Gemütslage entspricht. Ich bin zu aufgewühlt, um auf meine Klaustrophobie zu achten.

Als meine Haltestelle naht bete ich, dass der Bustyp zu tief in seinem Buch vertieft ist, um mich zu bemerken.

Ich schaffe es bis zur Ausstiegstür, als der Busfahrer eine Vollbremsung vor meiner Haltestelle hinlegt, eine meiner Krücken wegrutscht und ich auf dem Hintern lande. Natürlich ziehe ich alle Blicke auf mich, was mir eine wunderschöne Tomatenröte ins Gesicht zaubert, auch der Bustyp hat meine Panne mitbekommen und beobachtet mich, während ich versuche halbwegs elegant aufzustehen.

Aus dem Augenwinkel bekomme ich mit, dass der Bustyp Anstalten macht zu mir zukommen, aber bevor er richtig aufstehen kann ist schon ein netter Opa bei mir und hilft mir hoch. Ich danke ihm peinlich berührt, dann stakse ich vorsichtig und mit sehr, sehr heißem Gesicht aus dem Bus und erhasche ein mitleidiges Lächeln von dem Jungen, bevor er seinen Blick wieder auf das Buch senkt.

Na, das nenne ich mal einen schwungvollen Start in den Tag!, witzelt mein Ego. Ich brauche dringend etwas, um meinen Kopf dagegen zuschlagen.

***

Als ich in die Klasse humpele, entdecke ich hinten am Sofa Sophie und Jo, die gemeinsam eine Tüte Chips futtern. Ja, Chips. Es ist viertel vor acht Morgens, und sie essen Chips. Darum sind sie wohl auch meine Freunde. Ich steuere auf das Sofa zu, und lasse im vorbeigehen die Schultasche auf meinen Platz fallen. "Julia!", ruft Jo und klopft neben sich auf den Polster. "Wie geht's dem Bein?"

Jo ist immer wahnsinnig aufmerksam und freundlich, was ich sehr an ihm zu schätzen weiß. "Geht schon. Ich hasse meinen kleinen Bruder. Aber danke der Nachfrage, Johannes." Er verzieht das Gesicht. "Musst du immer Johannes sagen? Johannes hier, Johannes da... Als ob es nicht reichen würde, dass meine Mutter mich 800 mal am Tag damit quält!"

Lachend entschuldige ich mich. Es ist einfach immer wieder zu lustig.

"Sollen wir uns die Woche zusammensetzen? Leni ist ja auch mit auf Chorreise.", bietet mir Sophie an. Ich nicke erfreut. "Das ist super, ich hatte mich schon auf eine langweiligen Woche eingestellt. Kann ich auch?" Fragend deute ich auf die Chipspackung, worauf Jo sie mir vor die Nase hält. "Chips? So etwas Ungesundes willst du in der Früh essen? Solltest du nicht auf deine Ernährung achten?" Er runzelt die Stirn, bis ihm ein Lachen entkommt, weil ich ihn mit meinem Ist-das-dein-voller-Ernst-Blick ansehe. Ich esse sowieso schon zu viel Chips.

Wie tausend ChilisWhere stories live. Discover now