4. Es tut wieder Aua

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"Julia?"

"Hm?", ich sehe von meinem Buch auf. "Was ist denn?" Ich sitze auf der Couch im Wohnzimmer, und Mum steht vor mir, mit ihrer grünen Schürze um.

"Ich hab' dich jetzt zum dritten Mal gefragt, ob du deinen Bruder zum Essen holen kannst. Ist wohl gerade spannend, hm? Was liest du denn?"

"Die Arena", antworte ich, obwohl meine Mum keine Ahnung von Steven King hat, und mache ein Eselsohr in die Seite, so wie es der Bustyp am Montag gemacht hat.

"Hört sich gruselig an.", meint Mum und schüttet die Spaghetti in ein Sieb. Sie kocht jeden Mittwochabend das gleiche, keine Ahnung warum.

"Ist es auch ein bisschen", seufze ich und lege mein Buch weg, das übrigens gerade wirklich, wirklich sehr spannend ist. Ich wuschle meinem kleinen Bruder Noah, der schon in seinem Hochstuhl beim Tisch sitzt, im vorbeigehen durch die Haare.

Dann mache ich mich auf den Weg zu Bens Zimmer. Ich klopfe ziemlich übertrieben an die Tür, auf die mein Bruder ein Poster von Anthrax getaped hat, und warte auf sein übliches mürrisches "Ja was?", bevor ich die Zimmertür aufreiße.

Ich drehe mich allerdings gleich wieder um bevor ich auch nur einen Schritt hineingesetzt habe. Da drinnen hat's eine Luft, die könnte ich mit einem Plastikmesser schneiden!

"Essen!", würge ich hervor, und Ben springt wie ein hungriges Raubtier von seinem Schreibtischstuhl auf. "Spaghetti?"

"Natürlich.", antworte ich, aber Ben ist schon über die Treppe nach unten verschwunden. Kopfschüttelnd gehe ich ihm nach. Der Junge hat auch penetrant Hunger. Und dabei isst er fünfmal am Tag, und doppelt so große Portionen wie ich, aber hat trotzdem die Statur eines Spargeltarzans. Vor lauter Kopfschütteln übersehe ich ein Legostück von Noah, das da mitten auf der Treppe liegt.

Ich trete mitten drauf, rutsche aus und stürze die restlichen Stufen hinab.

Unten angekommen, breche ich in wüste Beschimpfungen aus. Mein linker Knöchel schmerzt wie verrückt, und mein Rücken fühlt sich an, als wäre ich ausgepeitscht worden. Ohne Spaß.

Ben hält sich vor Lachen den Bauch, anscheinend sah mein Treppensturz auch noch lustig aus. "Klappe!", zische ich. Mein Ego bedenkt ihn mit ein paar heftigeren Flüchen.

Da kommt auch schon Mum, und schenkt mir das Mitleid, das ich jetzt wirklich sehr dringend benötige.

"Oh mein Gott, Spätzchen, ist dir was passiert? Benjamin, jetzt sei doch mal still!"

"Noahs Lego ist passiert", grummle ich.

Sie reicht mir ihren Arm und gemeinsam mit Ben, der wohl geschnallt hat, dass es mir wirklich scheiße geht, hilft sie mir auf. Aber als ich meinen linken Fuß belasten will, schießt mir ein heißer Schmerz durch das ganze Bein.

"Fuß", bringe ich zischend heraus.

Ben und Mum helfen mir zur Wohnzimmercouch, auf der ich mich vorsichtig platziere. Da kommt Noah zu mir hergetapst, in seiner Hand ein Gebilde aus Legosteinen. "Bist du hingefallen? Tut's wieder Aua?", fragt er und blinzelt mich aus großen grünen Augen an.

Verdammt. Ich kann dem kleinen Fratz einfach nicht böse sein.

"Noah", sagt Mama und hebt ihn hoch. "Weißt du, es ist ganz wichtig, dass du dein Spielzeug besser wegräumst. Versprichst du mir das? Julia ist auf einem Legostein von dir ausgerutscht."

"Schuldigung Juli", murmelt Noah und drückt mir sein Legobauwerk in die Hände. "Schon gut", antworte ich. Jetzt ist es eh zu spät.

***

Wie ich Krankenhäuser liebe. Mum besteht darauf, dass ich mich untersuchen lasse, und verdonnert Ben dazu mich hinzufahren, weil sie ja Noah nicht alleine lassen kann. Ben ist ziemlich mies drauf weil er wegen mir seine Spaghetti stehen lassen musste, aber er reißt sich zusammen, als ich ihn zum wiederholten Mal anschnauze er soll nicht so ein Gesicht ziehen und rummosern wie ein Fünfjähriger. Da verhält sich ja Noah erwachsener.

Durch den Schmerz in meinem Fuß rückt die Klaustrophobie gottseidank in den Hintergrund, und wir sind schneller da als erwartet.

Tatsächlich ist mein Knöchel ordentlich verstaucht und ich bekomme zu meinem Leidwesen einen Gips, da auch etliche Bänder überdehnt wurden. Und mit meinen schicken Krücken fühle ich mich wie eine Oma, als ich humpelnd das Krankenhaus verlasse.

***

Ich hasse diesen Gips. Ich hasse meinen kleinen Bruder und sein verfluchtes Lego. Ich hasse mein Zimmer, und ich hasse Benjamin, der in seinem Zimmer neben mir richtig laut Musik hört.

Im Grunde ist es total gemütlich, nichts tun zu müssen. Ich muss nicht in die Schule, ich muss meiner Mum nicht bei der Hausarbeit helfen, ich muss mein Zimmer nicht aufräumen.

Unter der Woche ist es toll. Vorgestern war Kim bei mir, und gestern haben mich Jo und Sophie besucht, und mir die Hausaufgaben gebracht, die ich nicht machen werde. Wahrscheinlich.

Aber - und jetzt kommt der große Nachteil - am Wochenende ist jeder feiern, und ich sitze mit meinem dummen Scheißdrecksgips herum. Mum meinte, wenn ich nicht in die Schule gehen kann, dann kann ich auch nicht zu Jo's Hausparty, die zufällig genau heute ist. Kim, Sophie und Jo wollen zwar morgen Mittag vorbeikommen und mir alles erzählen, aber das ist halt nicht das selbe.

Frustriert schalte ich ebenfalls meine Stereoanlage ein, und mache Benjamin's Musik Konkurrenz.

Den restlichen Abend verbringe ich mit zeichnen und dem neuen Album von Enter Shikari. An sich nicht schlecht, aber eben kein Vergleich zu einer Hausparty und Bierpong.

Nach einer friedlichen Nacht und einem langweiligen Vormittag kommt etwas Abwechslung in meinen tristen Alltag, als meine drei verkaterten Freunde endlich aufkreuzen.

"Hi", Jo lässt sich auf mein Sofa fallen und Kim setzt sich zu mir aufs Bett, während Sophie den Boden wählt.

"Ihr seht total Scheiße aus", lache ich. "War's lustig gestern?"

"Du hast echt was verpasst", grinst Jo und gähnt.

"Ich weiß, reib es mir doch unter die Nase. Habt ihr bei Jo gepennt?"

Sophie nickt, und bindet sich ihre glatten, braunen Haare im Nacken zusammen. "Yep. Und das war 'ne gute Entscheidung. Echt schade, dass du nicht da warst, es war wirklich super!"

"Uh, und du errätst nie, wer auch da war!", sagt Kim und grinst.

Ich schüttle ratlos den Kopf. "Ne, wer denn?"

"Dein Ex", sie wackelt mit den Augenbrauen, während ich seufze. "Tim? Wie kommt der denn zu deiner Hausparty, Jo? Hat er irgendwas blödes gemacht?"

Jo schüttelt verneinend den Kopf, und verschränkt die Hände. "Keine Ahnung, ich glaube er ist mit Alex oder so gekommen. War aber schon ziemlich betrunken, er ist nach 'ner Stunde wieder abgehauen. War ganz lustig mit ihm."

"Ja Mann! Er hat sich mit Freddy, einem Kumpel von Max, ein Dance-Battle geliefert", lacht Kim los. "Das hättest du sehen müssen - zwei betrunkene, 18-jährige Jungs die um die Wette Macarena tanzen!", bei der Erinnerung fangen alle drei an zu kichern. Ich kann mir Tim wirklich gut dabei vorstellen.

Der Typ ist anscheinend immer noch so kindisch wie vor einem Jahr, und seitdem habe ich ihn eigentlich nicht mehr gesehen. Man kann Leuten gut aus dem Weg gehen, wenn man will.

Also, nicht dass ich was gegen kindische Leute hätte. Ich bin ja selbst nicht viel besser. Aber das mit Tim hat nicht funktioniert, und das finde ich mittlerweile wirklich gut so.

Den restlichen Nachmittag verbringen wir mit Lästern, Geschichten über die Party und Chips. Reichlich Chips.

Als meine Freunde Abends den Heimweg antreten, fühle ich mich schon wieder einsam. Kim kann mich erst nächstes Wochenende wieder besuchen, sie hat die ganze Woche vollgepackt mit Chorproben wegen der anstehenden Chorreise.

Dafür mache ich mir mit Sophie und Jo eine Star Wars Woche aus, wir nehmen uns vor jeden Tag einen Film anzusehen.

Und damit kann ich mehr als gut leben.

Wie tausend ChilisOnde histórias criam vida. Descubra agora