"Philipp?", als ich im gleichen Moment realisiere, dass er mich nicht hören kann, forme ich seinen Namen in Gebärdensprache noch ehe ich meinen Blick nach unten wende, mir von der inzwischen wieder ungewohnten Höhe kurz schwindelig wird, und ich ihn dann da stehen sehe. 

Er lächelt. Dieses atemberaubende Lächeln, bei dem man die Grübchen neben seinen Mundwinkel sehen kann und das so echt und authentisch ist, dass es ein wahres, wohliges Gefühl in der Nähe meines Herzens auslöst. Er sieht gut aus, hat sich nicht groß verändert, nur seine Haar sind etwas kürzer, damit erkennt man die Locken weniger. Seine Haut ist braun, obwohl gerade der Winter hinter uns liegt. Er wirkt entspannt, völlig ruhig und zufrieden mit sich und der Welt.

Ich reiße mich von meinem Anblick los.

"Ich will nicht stören!", ruft er zu mir hinauf, in einer Lautstärke als wäre ich taub, dabei ist er es, der eigentlich nicht hören kann. An seinen Worten kann man es kaum noch erkennen. Ich weiß nicht so recht wie er das hinbekommen hat, aber er spricht beinahe perfektes Deutsch. 

"Tust du nicht, willst du hoch kommen?", gebärde ich.

Er stockt für einen Moment, das bemerke ich sehr wohl, ich bin ja nicht blind. Ich weiß nicht ob es wegen der Bewegungen meiner Hände oder dem Angebot ist zu mir zu kommen. Er weiß ganz genau, dass das hier mein Baumhaus ist und das von Betty natürlich - unser Baumhaus und das hier oben niemand etwas verloren hat. Wenn ich es genau überlege, weiß ich nicht ob jemals jemand anderes hier oben war, außer wir zwei - vermutlich nicht. Meine Erinnerungen wollen auf jeden Fall keine Situation hergeben.

Trotz seines Zögerns klettert er schließlich langsam und bedacht die Leiter nach oben. Ich beobachte ihn. Er klettert anders als Betty es immer getan hatte. Langsamer, bedachter, ruhiger. Nicht gehetzt und so, dass ich Angst haben müsste, er würde gleich abstürzen. 

Als er schließlich neben mir steht und ich zu ihm hinauf schaue, merke ich die Unsicherheit in seinen Augen - er ist also doch nicht ganz so cool und ruhig wie angenommen. Ich klopfe neben mich, um ihm zu zeigen er solle sich setzten. Für einen Moment gleitet sein Blick in die Ferne.

"Hier!, er hält mir einen Briefumschlag hin, "der ist von Betty, ich soll ihn dir ein Jahr nach dem Abschluss der Briefe geben. Nur deshalb bin ich hier. Ich will dich nicht stören."

Ich muss lachen. Die Situation ist absolut absurd. Betty hatte doch tatsächlich Milenas Bruder, dem Jungen den sie eigentlich hasste, einen Brief für mich angetraut. Wenn mich nicht alles täuschte, dann waren die beiden hinter meinem Rücken so etwas wie Freunde.

Als ich nichts weiter sage, sondern meine Gedanken wieder einmal Achterbahn fahren, legt er den Umschlag direkt neben mich und will sich umdrehen, als ich reflexartig nach seiner Hand greife, völlig geschockt bin wie weich und warm diese ist, mein Herz einen definitiv ungesunden Hüpfer macht und einen Moment brauche, bis ich mich wieder fange. 

Um zu gebärden muss ich ihn leider wieder loslassen. Bin jedoch froh, dass er genauso geschockt zu sein scheint wie ich und keine Anstalten macht abzuhauen.

"Magst du dich nicht setzten?", frage ich. "Ich hätte da ein paar Fragen."

"Ich auch." 

Dieses Mal redet auch er in Gebärdensprache. Natürlich er will mich testen, das weiß ich sehr wohl.

"Wir fragen abwechselnd", beschließe ich, "aber zuerst musst du dich setzten und ich fange an."

Er nickt. Setzt sich langsam und mit einem definitiv zu großen Abstand neben mich.

"Also..." beginne ich, "Du und Betty ihr wart also so etwas wie Freunde und ich wusste nichts davon."

Er zuckt die Schultern. "So etwas wie - ja vielleicht. Ich habe sie um Vergebung gebeten und sie hat mir super viel über ihren Glauben und über ihre lebendige Beziehung zu Jesus erzählt."

Ich staune nicht schlecht. "Wie viel Kontakt hattet ihr?", will ich wissen.

Er winkt grinsend ab. "Ich bin an der Reihe."

Widerstandslos nicke ich.

"Woher kannst du Gebärdensprache sprechen - und das nahezu perfekt."

"Ich habe es gelernt. Ich arbeite Momentan in einem Kindergarten mit taubstummen Kindern."

Dieses Mal ist er es der staunt und ich bin fast ein wenig stolz auf mich. Für einen Moment überlege ich ob ich weiter bohren soll wegen der Sache mit Betty, aber wenn ich ehrlich bin, dann ist es egal, ich will mich nicht weiter mit irgendwelchen unwichtigen Dingen aus der Vergangenheit beschäftigen, ich will im Hier und Jetzt leben und da der Briefumschlag der neben mir liegt ja auch irgendwie noch der Vergangenheit angehört, öffne ich ihn einfach gleich auf der Stelle.

"Willst du nicht lieber Zuhause lesen.", inzwischen hat er wohl beschlossen wieder zu Reden und seine Hände ruhen zu lassen, vielleicht liegt es auch daran, dass ich ziemlich fixiert auf den Umschlag bin. Darin befindet sich nämlich kein ganzes Blätterchaos wie ich es eigentlich gewohnt bin,- immerhin hatte sie die Zettel immer fleißig nummeriert, wenn auch manchmal falsch ,-  sondern lediglich eine einzige Karte auf der sie mit ihrer krakeligen Handschrift genau einen Satz geschrieben hat.

"Soll ich gehen?", fragt Philipp.

"Du bist nicht an der Reihe mit Fragen.", meine ich.

Er murmelt irgendwie etwas undefinierbares vor sich hin, während ich in die Worte vertieft bin und sich binnen Sekunden ein riesiges Grinsen auf meinen Lippen ausbreitet.

"Willst du es lesen?", frage ich ihn. 

Er scheint unsicher. Ich halte ihm die Karte einfach unter die Nase.

Er muss lachen. Laut und frei und fröhlich und ich stimme in sein Lachen mit ein und eine Gänsehaut bildet sich auf meinem Arm und ich bin glücklich und es ist einfach so typisch Betty und ich fühle mich ihr unglaublich verbunden, selbst wenn sie nicht da ist und ich fühle mich auch dem Mann neben mir super verbunden und das obwohl wir uns seit gefühlten Ewigkeiten nicht gesehen hatten.

Es war okay. Es zählte das Jetzt. Es zählte dieser Satz, den ich immer und immer wieder las und gar nicht aufhören konnte zu lachen.

Darf ich vorstellen? Der junge Mann der dir diese Karte heute überreicht - er ist ein echter Held und vielleicht sollte du ihn mal nach einem Date fragen, dann ist er nicht mehr nur ein Held, sondern deiner!




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Ich kann einfach nicht glauben, dass dieses Buch hiermit abgeschlossen ist. Ich bin einfach nur sprachlos...

Eine Danksagung und Ankündigungen zu neuen Geschichten folgen...


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