Challengen Nr. 2

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Ich sitze auf meiner Fensterbank. Sie ist kalt und unbequem. Ein Kissen habe ich nicht, beziehungsweise bin ich zu faul um eines zu holen. Draußen pfeift der Wind um das Haus. Ich bin müde, habe in dieser Nacht kaum geschlafen. Es ist noch dunkel, dennoch kann man die Umrisse des Baumhauses bereits zu dieser Uhrzeit erkennen.

Tränen sammeln sich in meinen Augen wenn ich an Betty denke und ihren Brief, an ihre Worte, mit denen sie es irgendwie geschafft hat meine eigenen Gefühle offen zu legen. Sie hat das geschafft, was ich selbst niemals hinbekommen hätte, mich zu öffnen, in mich hinein zu schauen. Egal was sie schreibt, sie trifft den Nagel auf den Kopf. Es ist beängstigend wie gut sie mich kennt, es ist verrückt, dass ich manche Sätze über mich selbst lese und sofort nach Gegenargumenten suche, augenblicklich widerspreche und dann denke ich darüber nach und mir wird klar wie recht sie hat. Das jedes Argument meinerseits schwachsinnig ist, weil sie einfach recht hat und weil sie mich um einiges besser kennt, als ich mich selbst.

So auch in diesem Moment, wenn ich darüber nachdenke, dass ich sie immer bewundert habe und mein Kopf widerspricht nach wie vor, weil ich denke ein selbstbestimmtes Leben zu führen, doch mein Gefühl macht mir klar, dass es eine Lüge ist, dass ich mich selbst anlüge. Ich dachte gemeinsam mit Betty selbstbewusst, ich selbst zu sein, doch wenn ich nun hier sitze, allein, Tränen meine Wangen benetzen und ich den salzigen Geschmack auf meinen Lippen schmecke, dann wird mir klar, dass ich Betty stets bewundert habe, ich wollte nicht wirklich sein wie sie, aber meine eigenen Charaktereigenschaften haben nicht ausgereicht um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ich habe immer die ihren gebraucht. Die ihren um glücklich zu sein, aus mir heraus zu kommen, mich selbst zu akzeptieren.

Nun bin ich allein. Nun suche ich vergeblich nach Bettys Eigenschaften, sie sind nicht mehr da, ich bin auf mich selbst gestellt. Niemand der mich aufmuntert, mich ermutigt, mir Kraft gibt. Niemand der mich nahezu dazu zwingt aus mir heraus zu kommen, niemand, der es schafft mich aus meinem Schweigen zu befreien. Sie ist nicht da und ich selbst schaffe es nicht, selbst wenn ich es will, ich habe keine Chance, weil meine Charaktereigenschaften nicht ausreichen, weil ihre fehlen.

Ich weine hemmungslos. Versuche verzweifelt den Klos in meinem Hals hinab zu schlucken, es gelingt mir nicht. Mein Blick schweift unruhig umher, trifft immer wieder auf das Baumhaus. Zwei Monate sind vergangen, ich war nach wie vor nicht dort. Ich zittere und beginne zu beten und zu schreien und merke dass es nicht geht, dass ich ohne Betty nichts bin, dass ich es nicht kann, ich sacke in mich zusammen, ich kann mich nicht mehr halten, verliere das Gleichgewicht und falle von der Fensterbank.

Der Schmerz in meinem Rücken ist längst nicht so schlimm wie jener in meinem Herzen. Ich nehme es gar nicht wahr. Ich weine, ich habe Angst zu ersticken, weil mein Hals zugeschnürt und ich kaum noch Luft bekomme. Ich habe vor so vielen Dingen Angst, ich habe Angst zu leben, ich habe Angst zu sterben. Ich habe Angst in die Schule zu gehen, in die Gemeinde, in das Baumhaus, in unser Baumhaus. Ganz besonders habe ich Angst nicht hinaus zu kommen, es nicht zu schaffen, verloren zu gehen in meiner eigenen Welt, immer weiter hinab gezogen zu werden, ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, zu was für einem unfassbarem Maß eine solche Angst anwachsen kann.

Und dann öffnet sich meine Zimmertüre, ruckartig und ebenso ruckartig werde ich zurück in die Realität gerissen. Ich starre in das erschrockene Gesicht meiner Oma, ich starre in ihre vor Angst geweiteten Augen, ich starre doch ich tue nichts, ich weine einfach weiter.

Sie setzt sich zu mir auf dem Boden und nimmt mich in den Arm, so wie sie mich jeden Tag in den Arm nimmt, immer und immer wieder. Es hilft für einen winzigen Moment, es gibt mir Sicherheit und Geborgenheit, das Gefühl nicht ganz allein zu sein, doch das war es dann auch. Sie kann es nicht schaffen, sie würde es nicht schaffen mich zurück zu holen. Sie ist nicht Betty, ihr ist es schon damals nicht geglückt, als meine Eltern sich trennten, und ihr würde es auch heute nicht gelingen. Sie ist nicht Betty, sie wird nie Betty sein. Niemand wird das – niemals! Meine beste Freundin kann und darf nicht ersetzt werden.

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