12. Brief

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Allerliebste Leica,

stelle dir vor du liegst lesend auf deinem Bett. Die Sonne ist längst untergegangen. Einzig deine Nachtischlampe spendet noch spärlich etwas Licht. Deine Augen tun weh von dem stundenlangen Lesen. Du weißt längst nicht mehr wann du angefangen hast, auch weißt du nicht wie spät es jetzt in diesem Moment eigentlich ist. Zu spät, das definitiv. Schon vor ungefähr einer Stunde wolltest du schlafen gehen. Aber dann war da noch ein Kapitel und noch eines. Vielleicht ist es auch schon drei Stunden her. Du bist in deiner Welt gefangen. Zwei weitere Kapitel später, nimmst du wahr, wie vor deinem dunklen Zimmerfenster die Sonne langsam wieder aufgeht. Du blätterst einige Seiten nach vorn, nur um zu sehen wie viel es noch zu lesen gibst. Es verbleiben lediglich weitere 20 Seiten dieses ersten Bandes. Auf der einen Seite willst du so schnell wie möglich weiterlesen, die Spannung nimmt dich gefangen, selbst in dieser Endphase. Du willst nichts mehr als endlich zu wissen, wie dieses Kapitel ausgeht. Auf der anderen Seite willst du überhaupt nicht, dass dieses Buch jemals zu Ende geht. Versuchst ein wenig langsamer zu lesen, um wenigstens die letzten Seiten noch einmal vollkommen genießen zu können. Ein letztes Mal umblättern. Dann ist es vorbei. Einfach so. Du legst das Buch zur Seite, streichst einmal sanft über den Umschlag und schließt schließlich deine Augen. Morgen ist ein neuer Tag und damit beginnt ein neues Kapitel. Vielleicht auch der nächste Band.

Neuanfänge. Der Moment auf den man sehnlichst hineifert. Man freut sich auf das neue Buch, man ist voller Erwartung auf all das was sich hinter diesen nächsten Seiten wohl verbergen wird. Und gleichzeitig... gleichzeitig ist man vielleicht auch etwas aufgeregt, nervös, vielleicht sogar ängstlich. So viel Neues, Unbekanntes, nichts was man in der Hand hat. Es kann alles passieren, alles Gute und alles Schlechte. Das Happyend ist nicht garantiert. Der Autor hält die Fäden in der Hand, er weiß wo es hingeht, er kennt seine Charaktere ganz genau, in und auswendig, er weiß wo er sie haben will und tja... du hast absolut kein Mitspracherecht. Du bist eine hilflose Gestalt, ein passiv teilnehmender Leser, der aktiv gar nicht mitgestalten kann. Ich weiß nur zu gut, dass diese Tatsache manchmal ganz schön deprimierend sein kann und gleichzeitig liebe ich es. Ich liebe diese Ungewissheit, ich freue mich über Dinge die so passieren wie ich sie gerne hätte und ja ich rege mich auch über manche Handlungsverläufe schrecklich auf. Genau das ist es aber, was ein Buch für mich ausmacht. Könnte ich mitgestalten wäre das Ganze doch nur halb so aufregend, beinahe langweilig. Stattdessen geschehen Dinge, auf die ich keinen Einfluss habe, alles wird gesteuert und gelenkt und ich... ich kann schlichtweg einfach nichts tun, außer zusehen.

Für mich als den ungeduldigsten Menschen auf diesem gesamten Planeten kann das natürlich kann schön herausfordernd sein. Vielleicht mit einer der Gründe warum ich stets große Bögen um Bücher mache, da verstehe ich schon, warum du irgendwann angefangen hast selbst zu schreiben, es ist bestimmt ein cooles Gefühl über alles den Plan zu haben, Macht Dinge geschehen aber eben auch nicht geschehen zu lassen. Absurd eigentlich, wenn man die Argumentation deinerseits betrachtet, dass du bei deinen Poetry Slams anscheinend so absolut gar nichts in der Hand zu haben scheinst. Immer und immer wieder hast du mir den Entstehungsprozess deiner Texte versucht näherzubringen und ich glaube ich habe es bis heute noch nicht so richtig kapiert. Wenn ich jetzt gleich davon schreibe, wirst du bestimmt schmunzelnd vor meinen Worten sitzen, spöttisch den Kopf schütteln und dir denken: "Sie wird es wohl nie kapieren. Hat sie überhaupt jemals zugehört, wenn ich es ihr immer und immer wieder versucht habe zu erklären."

Um mich hier einmal kurz rechtzufertigen. Ja, ich habe sehr wohl zugehört, manchmal bin ich was das Zuhören betrifft vielleicht ziemlich schlecht, aber in diesem Fall ist es wirklich ein Thema das mich interessiert und wir haben so oft darüber geredet, ein einziges Mal von all diesen tausenden Gesprächen muss ich wohl auch mal geistig und nicht nur körperlich anwesend gewesen sein. Das Problem liegt vielleicht viel mehr an meiner Dummheit. Oder nennen wir es, beschränktes Verstehungsvermögen, wenn es so etwas überhaupt gibt.

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