Kapitel 20

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Ich wusste, mein heutiger Termin würde um 10 Uhr sein, also stieg ich unter die Dusche, ließ mich von dem lauwarmen Wasser überströmen. Ganz heiß konnte man es nicht drehen, genauso wenig wie ganz kalt. Wahrscheinlich aus Sicherheitsgründen…

Ich zog mir eine schwarze Leggins und ein dunkelrotes enges Oberteil an. Ich konnte das gar nicht ab, Schlabberlook zu tragen

Das inzwischen gebrachte Frühstück rührte ich nicht an. Ich aß hier immer noch nichts. Sollten sie mich halt zwangsernähren.

Um zehn vor zehn machte ich mich auf den Weg, zu Frau Ibis. Diesmal saß niemand vor dem Raum. Niemand außer einer Person. Ich nahm auf der gegenüberliegenden Seite Platz.

Als ich sah, wer dort mal wieder saß, starrte ich ungläubig auf den Jungen. Stalkte er mich?! Oder wieso war er immer da, wo ich auch war?

Die Tür ging auf und Frau Ibis winkte mich hinein. Ich erhob mich und versuchte ihn einfach zu ignorieren, was mir auch gelungen wäre, wenn er mir nicht auf meinen Arsch geschlagen hätte, als ich gerade durch die Tür wollte.

Ich sagte mir, ruhig zu bleiben, aber eine Sicherung war gerade durchgebrannt und ich drehte mich auf dem Absatz um, stapfte zu ihm und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

„Marisa komm rein, lass den Jungen am Leben!“, lachte Frau Ibis und ich versuchte möglichst ohne ihm erneut den Rücken zu zu drehen in das Zimmer zu gelangen.

Die Therapiestunde zog sich ewig. Ob dieser Junge wohl die gesamte Zeit vor der Tür wartete?

Frau Ibis fragte mich viele Fragen, die ich ihr nur Bruchstückhaft beantwortete. Warum auch sollte ich ehrlich sein? Ich hatte eh nicht vor gesund werden zu wollen.

„Marisa was soll das?“, holte sie mich wieder in die Realität zurück.

Ich sah sie an. „Was soll was?“ Ich versuchte so unschuldig wie möglich drein zu blicken.

„Diese Stunden könnten wir uns genauso gut einfach sparen!“, schmiss sie mir vor die Füße.

Ich setzte ein Lächeln auf. „Schön dass sie es einsehen!“

Sie schüttelte den Kopf. „Du bist echt verdammt dickköpfig Marisa!“

Ich zuckte die Schultern. „Darf ich jetzt gehen?“

„Du erinnerst mich sehr an jemanden…“, was sollte das jetzt werden? „Soll ich dir sagen an wen?“

„Wenn sie damit versuchen mich kooperativ zu machen, dann lassen sie‘s lieber bleiben!“, murrte ich.

„Nein…nein das ist nicht meine Absicht. Du hast mich gefragt, wieso ich Psychologin geworden bin. Genau aus dem Grund, um Leute vor einem Schicksal wie dem deinen zu schützen, Marisa. Genau deswegen bringe ich es nicht fertig, dich ausreichend zu therapieren. Du erinnerst mich an mich selbst in deinem Alter. Meine Mutter hatte starke Depressionen und ich habe sie eines Tages tot in ihrem Zimmer gefunden. An einem Strick. Nur zwei Tage später war die Beerdigung beider meiner Eltern…“

Ich starrte sie an. Warum sagte sie mir das? Ja, es war grausam, dass sich ihre beiden Eltern ermordet hatten und sie nun andere vor einem solchen Schicksal bewahren wollte, jedoch klappte es nicht, wie man auch an mir sehen konnte.

„Ich weiß wie man sich fühlt, wenn man am liebsten sterben möchte. Ich habe es nie versucht. Ich beneide viele der Leute hier dafür, dass sie den Tod gesehen haben. Ich beneide euch alle für euren Mut, den ich nie hatte. Ich werde kündigen. Marisa du bist stark, lass dich von keinem Psychiater dieser Welt verändern. Bewahre dir deine Seele. Bleibe du selbst!“

„Warum wollen sie kündigen?!“, fragte ich ungläubig. Eine Psychologin hatte mir soeben gesagt, ich solle an meinem Vorhaben festhalten…das kam mir vor wie eine völlig falsche Welt. War das ein Traum?

„Weil du mir bewusst gemacht hast, dass keiner hier krank ist. Keiner der angeblich kranken. Ihr wollt bloß euren Schmerz vergessen. Danke dass du mir das gezeigt hast“, flüsterte sie und fügte noch hinzu. „Meine letzte Handlung bevor ich gehe wird sein, der Empfangsdame zu sagen, dass du dich ab jetzt frei bewegen darfst“

Ich stand kurz vorm Heulen, als ich auch noch ihre wässrigen Augen sah. Sie bedankte sich bei mir. Kündigte wegen mir.

Völlig verwirrt verließ ich das Zimmer und stand, wie ein verlorenes Kind im Einkaufszentrum, einfach vor der geschlossenen Tür. Ich wusste nicht was ich denken sollte. War das vielleicht sogar ein Schritt in die richtige Richtung? Zu meiner Freiheit?

Etwas berührte mich am Arm und ich zuckte heftig zusammen. Drehte meinen Kopf und blickte in ein paar strahlend blaue Augen. So ein blau hatte ich noch nie gesehen. Es war wie das blau des Meeres an seiner tiefsten Stelle, wenn man von oben an einem stürmischen Tag hinauf blickte.

Folge deinem Herzen bis in den TodWhere stories live. Discover now