Kapitel 16

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Der Tag verlief eintönig. Ich weigerte mich, etwas zu essen - vielleicht würde ich einfach verhungern können? - Und ansonsten verließ ich mein Bett kein einziges Mal.

Am nächsten Morgen kam Frau Ibis tatsächlich erneut vorbei, zwang mich, aufzustehen und ins Badezimmer zu gehen, das ich bisher kein einziges Mal betreten hatte. Sie verlangte, dass ich mich duschte und anzog. Zu sagen, ich wäre nicht neugierig gewesen, wäre eine Lüge, aber es machte mir auch etwas Angst.

In einer Hose und einem Top trat ich wieder aus dem kleinen Raum in mein Zimmer und wurde sofort zur Tür gescheucht.

„Ich zeige dir jetzt mal das Gelände, auf dem du dich auch in näherer Zukunft frei bewegen darfst, wenn du die Regeln einhältst!“, meinte sie, erwähnte aber keine einzige der angesprochenen Regeln.

Frau Ibis zeigte mir die Etage für suizidgefährdete Jugendliche, geleitete mich eine Treppe nach unten und dort auf einen große Platz, auf dem einige Bänke standen und der an eine weitläufige, jedoch mit einem hohen Zaun eingegrenzten Grasfläche anschloss.

Des Weiteren führte sie mich in eine Halle, in der anscheinend die Kantine ansässig war, hier meinte sie, könnte ich essen, wenn ich hunger hätte.

Das Gebäude sah eigentlich nicht aus, wie ein Krankenhaus, eher wie eine Pension. Ein kleines Hotel, zwar ohne hohen Standard, aber es war nicht annähernd so schlimm wie ein Krankenhaus, oder eine Arztpraxis.

Einige Leute liefen uns über den Weg. Sie sahen unheimlich aus. Teilweise. Andere jedoch wieder völlig normal. Ich hatte Respekt davor, dass sie es hier aushielten.

Am Ende des Rundgangs kamen wir in einem Raum an, der sich als ihr Arbeitszimmer herausstellte.

„Also…sobald du dich etwas eingelebt hast, darfst du die geschlossene Ebene verlassen, wenn du dich am Eingang der Etage bei der Empfangsdame abmeldest und auch in etwa die Dauer deines Wegbleibens angibst. Solange wirst du sie nur in Begleitung verlassen können und Essen im Zimmer erhalten, was ich auch anrühren würde, sonst müssen wir dich fremdernähren. Aber lass uns mit der ersten offiziellen Sitzung beginnen. Erste Frage: Dein Bruder Alex, in welchem Verhältnis standet ihr?“

Woher wusste sie von ihm? Hatte meine Mutter es ihr gesagt? Sollte ich ihr antworten? Würde es mir helfen und eventuell Pluspunkte verschaffen, wenn ich kooperierte? Vielleicht würde ich dann entlassen werden und würde mein Vorhaben durchführen können.

„Er war mein Verbündeter im Kampf  gegen unsere Eltern.“, gab ich zurück.

Sie musterte mich über den Rand ihrer schwarzen  Brille hinweg, kritzelte ohne hinzusehen etwas auf einen Zettel, der an einem Klemmbrett befestigt war und meinte dann: „Was ging in dir vor, als du ihn gesehen hast?“

„Ich kann das nicht beschreiben!“

„Versuch es!“, hakte sie nach.

„Es geht nicht! Ich kann das nicht!“, flüsterte ich und stand auf, verließ den Raum und suchte fluchtartig mein Zimmer auf.

Ich hätte erwartet, dass sie mir folgen und weiter fragen würde, doch sie kam nicht.

Ich konnte nicht über meine Gefühle reden, die ich zu dem Zeitpunkt verspürt hatte, als ich ihn tot sah, weder von dem Zeitpunkt an, an dem ich die Sprachmemo erhielt, noch dem jetzigen. Seit diesem einen Tag konnte ich nicht sagen, was ich fühlte. Es war seltsam. Aber es ging einfach nicht. Es war wie eine Sperre in meinem Hirn, die es mir unmöglich machte, über meine innersten Empfindungen zu reden.

Ich ließ mich auf mein Bett sinken und fuhr mir durch die Haare, die schon wieder etwas die Naturhaarfarbe durchschimmern ließen. Anscheinend war die Tönung, die ich verwendet hatte nicht sehr langlebig gewesen. Aber es war mir so ziemlich egal.

Folge deinem Herzen bis in den TodWhere stories live. Discover now