Kapitel 10

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Die Nacht über lag ich wach und starrte hinein in die Dunkelheit. An die Decke, an die Wand, wo auch immer ich hin starrte, ich sah überall diesen Sarg mit den vielen Rosen bedeckt vor mir. Verzweifelt versuchte ich das Bild aus meinem Kopf zu bekommen, ohne Erfolg. Ich bemerkte, wie mir frische salzige Tränen die Wangen hinunter liefen und ließ es geschehen. Niemand konnte mich sehen. Niemand würde je erfahren, dass ich geweint hatte. Das war der Vorteil dieser stillen und dunklen Nacht, ich konnte meine Gefühle zeigen, auch wenn sie mich irgendwie wütend machten…ja, wütend war das richtige Wort. Warum konnte ich nicht sagen, aber es war so.

 Ich schloss meine Lider und riss sie auf der Stelle wieder auf. Ich sah lieber das überwältigende Bild eines Sarges, in dem mein Bruder seine Ruhe fand, als einen riesigen roten Fleck im Schnee.

Ich würde wohl heute Nacht kein bisschen Schlaf abbekommen…

Aber wenn ich ehrlich war, dann wollte ich es auch nicht. Ich brauchte diese Stunden um mich zu beruhigen, neue Kraft zu sammeln. Wo auch immer ich diese her nehmen vermochte…ich hoffte sie irgendwie auftreiben zu können.

Mein Wecker zeigte fünf Uhr morgens als ich beschloss auf die Toilette zu gehen.

Das Licht im Flur brannte und ich hörte das Gepolter von schweren Schritten auf der Treppe. Ich bekam es mit der Angst zu tun und als ich das Gesicht meines Vaters sah, wusste ich nicht, ob ich mich darüber freuen sollte, oder nicht.

Wutverzerrt war sein Blick ins Nichts gerichtet, bis er auf mich fiel. Wie angewurzelt stand ich da und überlegte Fieberhaft, was zu tun war.

Von der Entfernung von sicher fünf Metern konnte ich seine grässlichen Alkoholausdünstungen riechen. Langsam tat ich einen Schritt zurück, dann noch einen und noch einen, bis ich wieder in meinem Zimmer angelangt war und die Tür hinter mir verriegelte. Meine Finger suchten den Lichtschalter, knipsten es an und ich zuckte beim Aufleuchten der Glühbirne zusammen. Mein Blick wanderte zu dem Siegel. Meine Augen waren schwarz und irgendwie…ich konnte es nicht beschreiben, jedoch war der Glanz aus ihnen verschwunden. Sie waren matt. Nichts deutete darauf hin, dass sie zu einem lebendigen Menschen gehörten.

Wie weit war meine Familie in einer knappen Woche gesunken?! Mein Vater war Alkoholiker mit Aggressionsproblemen geworden, meine Mutter eine heulende Mimose und ich eine leere Hülle, die nur wenn sie allein ist ihre Gefühle zeigen kann.

Aus einer Musterfamilie war eine Familie wie aus einer Asi-Tv-Sendung geworden…

Ich schaltete das Licht wieder aus und legte mich zurück in mein Bett. Die Stille die mein Zimmer erfüllte jagte Gänsehaut meinen Rücken hinunter. Es war so still, dass ich meinen eigenen Herzschlag hören konnte.

Dieses „Bum Bum“…es war das Gegenteil zu meinen Augen. Es sprach von meiner Lebendigkeit, davon dass ich lebte, solange es seine Tätigkeit fortsetzten würde.

Es gab diesen Spruch…wie hieß er doch gleich? Höre auf dein Herz, doch was bedeutet bum bum? Naja, so ähnlich auf jeden Fall. Gerade in meiner Situation hieß dieses Klopfen in meiner linken Brust nichts weiter als eine grässliche Entfernung zwischen Alex und mir. Keine räumliche Entfernung, nein, eine Trennung einer völlig anderen Art. Es sprach von meinem Leben und von Alex Tod. Von unseren Welten in denen wir gefangen waren.

Warum und was den entscheidenden Ausschlag zu diesem einen Gedanken gab, wusste ich nicht. Ich würde es nie erfahren. Aber die Tatsache, dass durch dieses dämliche Sprichwort jeder meiner Herzschläge mir vor Augen führte, was das Leben für mich bedeutete, hielt ihn in meinem Gehirn fest.

Ich würde es unmöglich aushalten für ewig dem Moment hingegen zu sehnen, wenn mein letzter Herzschlag getan war und ich meinen Bruder wieder sehen konnte. Ich würde es nicht schaffen, mit jeden meiner Herzschläge meines Lebens an diese Zeit der letzten Tage erinnert zu werden, immer an die Entfernung meines Bruders und Verbündeten zu mir.

Vielleicht war das übertrieben, vielleicht war das irre, verrückt, leichtsinnig.

Ich war nicht mehr so klein, um nicht zu wissen, was dieser Schritt bedeuten würde. Es war mir nur zu gut bewusst und die Folgen waren mein Ziel.

Ja, sicherlich war es nicht normal solch Gedanken zu haben und sie im Geist auszuformulieren und zu planen, aber ich war einfach nicht mehr gesund. Ich gab es zu! Ich war geistig krank. Wenn das meine Gedanken rechtfertigen konnte, dann war ich es.

Seufzend setzte ich mich auf, zog meine Knie an meinen Körper und dachte nach. Wie konnte ich es anstellen? Wie schaffen, dass nichts schief laufen konnte? Wenn ich es nicht richtig machte, konnte alles vorbei sein. Und ich wollte mir die Folgen für mich gar nicht ausdenken. Nein!

Es musste alles ganz genau geplant und sorgfältig vorbereitet werden.

Bis ins kleinste Detail. Bis ins aller kleinste Detail. Bis in die aller aller aller kleinste Möglichkeit, um Pannen ausschließen zu können. Einfach alles musste passen.

Mir geisterten bruchstückhaft Ideen durch den Kopf. Aber sie wollten sich nicht Zusammenfügen.

Es waren eigentlich auch viel mehr Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Noch nicht.

Bum Bum. Bum Bum. Bum Bum. Ich müsste beinahe lächeln bei dem Gedanken an mein Vorhaben, bei dem Gedanken, dass dieses bescheuerte Schlagen meines Herzens endlich aufhören würde.

Ich würde den letzten Schlag meines Herzens nur mit Freude entgegen sehen, bald, sehr bald würde ich diese Welt verlassen und all diese seelischen Qualen hinter mir lassen.     

Folge deinem Herzen bis in den TodWhere stories live. Discover now