Was ist der tiefere Sinn der Schreie?

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Ich wachte durch einen Schrei auf.
Stöhnend drehte ich mich auf die Seite und vergrub mein Gesicht in das Kopfkissen.
„Zara, schrei nicht so", murmelte ich und öffnete langsam meine Augen, um mich darauf vorzubereiten, jeden Moment aus dem Bett geschmissen zu werden.
Ich bekam keine Antwort.
„Zara?" Ich drehte mich um und hob meinen Kopf an, doch mit einem Blick realisierte ich, dass ich vollkommen alleine in meinem Zimmer war. Zara war nicht hier und somit lief ich keine Gefahr erneut Bekanntschaft mit dem Boden zu machen.
Ich runzelte die Stirn und ließ mich stöhnend zurück in das Kissen fallen.
Hatte ich vielleicht geträumt?

Ich schloss erneut meine Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen, die mir direkt durch das Fenster in mein Gesicht strahlten.
Es würde ein schöner Tag werden, das Sommergewitter von gestern war längst weitergezogen und sofort kam die Erinnerung an die gestrigen Ereignisse wieder.
Mein Herz stolperte und ich konnte es nicht verhindern, dass ich anfing über das ganze Gesicht zu strahlen. Es erschien mir noch immer so unwirklich, dass Zara diese Worte ausgesprochen und mich geküsst hatte. Sie war in mich verliebt. Mein Herzschlag beschleunigte sich bei den Gedanken daran und ich fragte mich, ob es jemals ein schöneres Gefühl geben könnte, als das, was ich gerade empfand.

Ich öffnete meine Augen und blinzelte gegen die Sonne.
Und dann blieb mein Herz für eine Sekunde erneut stehen.
Doch diesmal vor Schock.

Die Sonne!


Erschrocken drehte ich mich zu meinem Wecker um.
7:45 Uhr.

Wie konnte es nur schon so spät sein?
Wo war Zara?

Ein erneuter Schrei erklang und sofort sprang ich wie von der Tarantel gestochen aus meinem Bett. Meine Gedanken rasten und sofort kamen mir wieder ihre Zusammenbrüche in den Sinn. Was wäre, wenn sie genau solch einen wieder durchlebte?

Nur in meiner Schlafhose bekleidet, wollte ich in ihr Zimmer rennen, doch auf halben Weg kam mir eine schlaftrunkene Amy entgegen. Auch sie trug noch ihren Pyjama und rieb sich gähnend über die Augen, als ich sie beinahe umrannte.
„Hast du Zara gesehen?", fragte ich sie hastig und vollkommen außer Puste. Verwirrt sah sie mich an und öffnete langsam den Mund: „Nein, ich bin eben nur aufgewacht, weil..." Mitten im Satz stockte sie und ihre Augen wurden groß. Auch sie schien nun zu verstehen. „Die Schreie... Ich dachte, ich..."

„Komm mit!", unterbrach ich sie nur, nun noch mehr aus der Ruhe gebracht. Ich hatte mir die Schreie also nicht nur eingebildet.

Verschwunden war die Müdigkeit bei Amy und zusammen wollten wir gerade in Zaras Zimmer stürmen, als ein erneuter Schrei ertönte.
Er war um einiges leiser und ähnelte nun mehr einem kläglichen Weinen.
Und es kam von draußen.

Sofort machten wir eine Kehrtwende und stürmten die Treppen nach unten.
Wir nahmen die Abkürzung durch die Küche, warfen den Berg an Altpapier um und rutschten beinahe auf den Fliesen aus, doch dies schenkten wir keinerlei Beachtung.

Kaum waren wir draußen, hörten wir das Schluchzen.
Es kam von der Wiese.
Doch es klang nicht nach Zara.

Schon von Weitem konnte ich Delores erkennen, wie sie schluchzend im Gras hockte.
Von ihr kamen die Schreie.
Und neben ihr stand Dean.

„Was ist passiert?!", keuchte ich, als wir schlitternd in einigen Metern vor ihnen zum Stehen kamen. „Wo ist Zara?"
Dean drehte sich wie in Trance zu uns um und sein Blick huschte zwischen uns hin und her. Dann schüttelte er leicht den Kopf, hielt inne und schien sich selbst zusammenzureißen, bevor er mit schnellen Schritten auf uns zukam.
Sein Gesicht war von tausenden Tränenspuren bedeckt.
Warum weinte er?
Was war so Schlimmes passiert?
Und wo zur Hölle war Zara?

„Geht wieder rein. Bitte." Seine Stimme war rau. Belegt vom Weinen.
„Was ist hier los, Dean?", fragte Amy unsicher. Sie klammerte sich an seinen Arm fest, doch im nächsten Moment brach er erneut in Tränen aus, sodass er nicht in der Lage war, ihr zu antworten.
Und ich hatte die schlimme Vermutung, dass es eine Antwort war, die keiner von uns hören wollte.

Ich wusste, dass es wahrscheinlich eine Entscheidung war, die ich bereuen würde, doch ich tat es dennoch, beinahe schon instinktiv. Mit langsamen Schritten ging ich an Dean vorbei und schüttelte seine Hand ab, die er kraftlos auf meine Schulter legte, um mich an meinem Vorhaben zu hindern. Ich trat geradewegs auf Delores zu.
Sie hockte vor etwas.
Oder vor jemanden.

Nein!, schrie mir mein Gehirn zu.
Dreh dich um und renne ganz weit weg! Du willst das nicht sehen!

Doch ich hörte nicht auf meinen eigenen Verstand. Vielleicht hätte ich dies tun sollen.
Stattdessen ging ich noch einen Schritt näher.
Und noch einen.
Und dann konnte ich es endlich sehen.


Ich konnte sie sehen.

Wie in Trance sah ich auf dieses Szenario, das so unwirklich war.
Es konnte nur ein Traum sein, nicht der Realität entsprechen.

Delores saß weinend und schluchzend vor einer Person.
Einer Person, deren roten Locken sich auf dem nassen Rasen wie ein Fächer um ihr schmales Gesicht ergossen. Ihre Augen waren geschlossen und sie trug noch immer den blau weiß gestreiften Badeanzug.

Sie sah aus, als würde sie schlafen.
Aber das tat sie doch auch.
Zara schlief, anders könnte es doch gar nicht sein!


Es war ein dummer Streich von ihr, sie würde gleich blinzelnd die Augen öffnen und uns mitteilen, dass auch der Garten jedem gehörte und sie somit das Recht besaß, hier draußen zu übernachten.

Ich hörte, wie jemand schrie und es klang, als würde derjenige lebendig gehäutet werden.
Erst als um mich herum alles schwarz wurde und meine Beine unter mir wegknickten, wurde mir bewusst, dass ich es war, der geschrien hatte.

Was war wohl der tiefere Sinn der Schreie?
Ich wusste es nicht. Nur noch Dunkelheit beherrschte meinen Kopf.
Und dann dachte ich nichts mehr.

Das Mädchen aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt