Zaras Norden

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Eine weitere Woche verging. Eine weitere Woche, die wir jeden Tag zu viert in der Grotte verbrachten und ich jeden Morgen von Zara geweckt wurde. Jeden einzelnen Morgen der Woche hatten wir zusammen auf dem Dachvorsprung gesessen, Schokoladenkekse gegessen und uns den Sonnenaufgang angeschaut. Währenddessen hatte sie mir einige Sachen erzählt und ich hatte ihrer Stimme voller Faszination gelauscht.
Seit jener Nacht hatte ich sie nicht mehr geküsst, geschweige denn mit ihr über diese Nacht unter dem Sternenhimmel geredet, doch ich nahm mir fest vor, es noch in diesem Sommer zu machen. Ich war mir unsicher, wie Zara die Situation beurteilen würde, deswegen hatte ich beschlossen, uns Zeit zu lassen.
Denn die Zeit hatten wir, immerhin war ich einen ganzen Sommer hier.

Auch verlor sie kein einziges Wort mehr über meinen tieferen Sinn.
Die Gedanken daran waren jedoch meine ständigen Begleiter. Einzig und allein um die Frage nach meinem tieferen Sinn und meine Gefühle für Zara kreisten die Gedanken in meinem Kopf.

Bereits zwei Wochen hatte ich hier auf dem Anwesen von Delores mit Zara, Amy und Dean verbracht und keine einzige Sekunde davon das Bedürfnis gehabt, wieder nach Hause zu wollen. Selbst an meine Playstation hatte ich keinen weiteren Gedanken mehr verschwendet.

Denn Zara und die tieferen Sinne waren um einiges spannender als jedes Spiel, das ich besaß. Zara war jedoch immer noch genauso geheimnisvoll wie am ersten Tag meines Sommers. Zwar hatte sie mir täglich etwas über die tieferen Sinne erzählt, doch als wir heute auf dem Dach saßen und uns den Sonnenaufgang ansahen, wurde mir bewusst, dass ich so gut wie nichts über Zara wusste.

Das wenige was ich über sie wusste, war in wenigen Sekunden zusammengefasst:
Zara war sechzehn, ihr genaues Geburtsdatum kannte ich jedoch nicht; sie kam bereits seit sie neun Jahre alt war hier her, sie war von der Existenz der tieferen Sinnen eines jeden Gegenstandes und Lebewesens überzeugt und die gläserne Statue spielte eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Welche genau, wusste ich jedoch auch nicht.

„Du hast nie etwas von dir erzählt", sprach ich schließlich zu ihr.
„Ich habe es nie für nötig gehalten", entgegnete sie nur schulterzuckend und knabberte weiter an ihrem Schokoladenkeks.
„Warum?", hakte ich nach, in der Hoffnung vielleicht eine Antwort zu bekommen, die meine Neugierde befriedigen würde.
„Max, was würdest du mit den Informationen anfangen können?" Sie seufzte auf und ließ den Keks in ihrer Hand sinken. „Was würdest du machen, wenn du erfahren würdest, dass die Bäckerin, bei der du immer Brötchen holst, Krebs hat und eigentlich Designerin werden wollte?" Ihre Stimme klang für ihre Verhältnisse ungewohnt gereizt. „Würdest du ihr sagen, dass es dir leid tut?"

Erneut seufzte sie auf und atmete dann einmal tief ein. Dann schloss sie ihre Augen und lehnte sich an die Dachziegel. Mir hingegen schoss die Angst durch den Körper und augenblicklich war mir der Appetit auf meinen eigenen Keks vergangen.

„Willst du damit sagen, dass du krank bist, Zara?", fragte ich vorsichtig und stockend nach. Denn wenn ich ehrlich war, hatte ich Angst vor der Antwort. Wäre es wirklich möglich, dass jemand wie Zara einfach so an einer Krankheit sterben könnte? „Wenn ja, dann wäre es etwas ganz anderes, als wenn meine Bäckerin krank wäre, Zara..."

Zara schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. Sofort atmete ich erleichtert auf und die Erleichterung war wie ein Segen für meinen angespannten Körper.

„Das war nur ein Vergleich, Max. Aber selbst, wenn ich Krebs hätte, was würdest du dann tun? Du könntest mir nicht helfen und wärst nur selbst seelisch belastet. Unwissenheit ist manchmal ein Segen. Ein weiterer tiefere Sinn, denn du gelernt hast", erklärte mir Zara ihre Sichtweise, doch ich wollte es ihr nicht glauben.

„Wofür soll das denn ein tieferer Sinn sein? Unwissenheit ist eine Qual, Zara. Ich weiß so ziemlich gar nichts über dich. Selbst über Dean weiß ich so einiges mehr-" Sie unterbrach mich, indem sie die Augen öffnete und mir einen verschlossenen Blick aus ihren smaragdgrünen Augen zuwarf. „Der tiefere Sinn des Schweigens."

Dies sollte also der tiefere Sinn des Schweigens sein? Man schwieg, weil man dachte, dass die Unwissenheit besser als Wissen wäre? War dies eigentlich nicht eine eigennützige und egoistische Handlung?

Zara war wie ein geschlossenes Buch, das nur ungern seine Geschichte preisgab.
Aus Angst, dass jemand die Buchstaben weg lesen könnte.
Und in diesem Moment stimmte es.
Ich jedoch wollte mich nicht damit zufrieden geben. Denn diesen tieferen Sinn wollte ich nicht akzeptieren.

„Erzähle mir bitte nur eine einzige Sache, Zara. Nur eine einzige Sache über dich, bitte." Ich flehte sie geradezu an und richtete mich halb auf. Doch Zara stand nur auf, klopfte sich den Dreck von ihrer kurzen Jeans und kletterte wieder auf die Dachspitze.
Ich beobachtete sie dabei, in der Hoffnung, dass sie noch etwas sagen würde, so wie sie es das letzte Mal getan hatte. Und tatsächlich: Oben angekommen, verharrte sie in ihrer Bewegung, sah zu mir herunter und legte unsicher den Kopf schief. Ich konnte erkennen, wie sie auf ihre Lippe biss und nachzudenken schien.
Sie war sich unsicher und gerade, als ich den Mund öffnete, um zu versuchen, sie zu überreden, fing sie an zu sprechen: „In Ordnung, ich werde dir etwas erzählen, Max. Aber bewahre dieses Wissen gut auf. Meine Vergangenheit gehört nur mir und niemanden anderen." Ihr Blick glitt über den Horizont und es schien, als würde sie Erinnerungen nachhängen. Ohne mich anzusehen, redete sie weiter: „Etwas, was du über mich wissen willst? Ich habe das Gefühl, im Norden meines Lebens festzustecken, und das schon seit einigen Jahren."

Dann balancierte sie zu dem Fenster zurück.
Ich hingegen saß weiterhin auf dem Dachvorsprung und grübelte über ihre Aussage nach.

Norden ihres Lebens.
Der Sonnenkreislauf.
Osten als Baby.
Süden als Erwachsener.
Westen als alten Greis.
Und Norden...
Norden als die Trauerzeit.
Die Nacht, welche um das verlorene Leben trauert.
So lange bis es von vorne anfing.

Was wollte Zara mir damit sagen?
Dass sie voller Trauer war?
Schon längst gestorben war?
Oder dass sie auf ein neues Leben wartete?

Aber wir redeten doch über Zara.
Zara, das außergewöhnlichste und widersprüchlichste Mädchen, welchem ich je begegnet war. So voller Leben, voller Freude, aber auch so voller Geheimnisse und einer verschlossenen Vergangenheit.

Mir fiel ihr Ausbruch wieder ein.
Wie sie die gläserne Statue um Vergebung angebettelt hatte.
Wie sie das Flügelpaar und gleichzeitig die Fesseln zerstört hatte.
Wie sie so kalt und voller Entschlossenheit von ihrem eigenen tieferen Sinn geredet hatte.

Wie konnte ich das nur übersehen?
Ich musste unbedingt mit ihr darüber reden. Oder es zumindest versuchen.
Denn so, wie ich Zara bisher kennengelernt hatte, konnte ich mir vorstellen, dass ich mit meinen Worten bei ihr auf eine Mauer treffen werde.

Das Mädchen aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt