Flügelpaar oder Fesseln?

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Den ganzen Nachmittag hörte und sah ich nichts von Zara. Amy und Dean waren schwimmen und somit hockte ich alleine in meinem stickigen Zimmer und wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte.
Mehrmals war ich kurz davor, einfach aufzustehen und zu Zaras Zimmer zu gehen, doch jedes Mal riss ich mich, kurz bevor ich meine Türklinke herunter drückte, zusammen und zwang mich dazu, im Zimmer zu bleiben. Denn ich würde auf Amy hören und Zara einfach die Zeit geben, die sie brauchte.

Als es Zeit für das Abendbrot war, war ich erleichtert und konnte nicht schnell genug in den Speisesaal kommen. Ich hoffte auf ein Wiedersehen mit Zara.

Doch sie kam nicht zum Essen und Delores schien es nicht einmal zu bemerken.
Auch Amy und Dean schienen es nicht sonderlich zu stören, denn bis auf ein „Dann wird Zara wohl erst morgen wiederkommen", sagten sie nichts zu den Umständen. Vielleicht kam diese Situation so oft vor, dass es einfach schon normal war. Ich hingegen presste meine Lippen aufeinander und wollte am liebsten aufstehen und den Raum verlassen. Denn der Hunger war mir vergangen und nachdem Amy ihre Versuche, mich in die Unterhaltung mit Dean einzubinden, aufhörte, fühlte ich mich plötzlich wieder einsam.
Es schien, als wäre ich wieder in der Schulmensa und würde an dem Tisch mit meinen sogenannten Freunden sitzen, die jedoch alle nur mit sich selbst beschäftigt waren.

Mein Kopf war nur voller Sorgen um Zara und als endlich das Geschirr abgeräumt wurde, griff ich schnell nach dem letzten Sandwich auf dem Tablett und pulte den Schinken herunter, bevor ich aufstand.
Denn ich beschloss meine Vorsätze zu brechen und Zara zu besuchen. Vielleicht hatte sie trotz allem Hunger und wollte einfach nicht in unserer Gesellschaft essen.

Als ich bei ihr anklopfte, erhielt ich keine Antwort.
Unsicher stand ich vor ihrer Tür und starrte auf die vielen kleinen Zettel, die auf dem Holz klebten. Sollte ich wieder gehen?
Als mir jedoch einfiel, dass sie vielleicht auch auf dem Dach war, öffnete ich vorsichtig die Tür.

„Zara?", rief ich und trat langsam über die Türschwelle. Die Tür ließ ich offen, da ich nicht wusste, ob ich bereits eine Grenze überschritten hatte, indem ich einfach in ihr Zimmer gekommen war.
Ich bekam keine Antwort, deswegen sah ich mich unsicher um. Sie befand sich nicht in dem unteren Teil ihres Zimmers, dafür herrschte hier noch immer das gleiche Chaos wie heute Morgen.

Mit dem Sandwich-Teller in der Hand bahnte ich mir einen Weg durch die Unordnung. Als ich an der Treppe angekommen war, hörte ich ein leises Geräusch, welches sich wie ein Wimmern anhörte. Mein Herz stolperte einmal, bevor es rasend schnell weiterschlug. Für einen Moment verharrte ich auf der ersten Treppenstufe, meine Hand schwebte über dem Geländer. Ich wusste nicht, ob ich darauf vorbereitet war, eine völlig aufgelöste Zara vorzufinden. Denn ich hatte nicht ohne Grund keine tieferen Freundschaften. Ich war einfach nicht dazu geeignet, eine tröstende Schulter zu sein, ich fand ja nicht einmal passende Worte, wenn es die Situation verlangte.

Als ich das leise Geräusch ein weiteres Mal vernahm, schloss ich für einen kurzen Moment meine Augen und atmete tief ein. Ich überraschte mich selbst damit, als ich mit festem Griff das Geländer umfasste und langsam die Treppe Schritt für Schritt nach oben ging.

Der Schock über das Szenario, dass mir oben aber geboten wurde, traf mich jedoch vollkommen unerwartet.
Schockiert blieb ich wie angewurzelt stehen und blinzelte, nicht sicher, ob das hier wirklich die Realität war:
Die Farbeimer, die wir erst heute gekauft hatten, waren aufgerissen und die meisten von ihnen waren umgekippt, sodass sich mehrere Farben auf dem Boden zu einem See vermischten.

Und als mein Blick auf die Wand fiel, die ich heute Morgen erst bestaunt hatte, erschrak ich. Denn Zara hatte die Zeichnungen auf der Wand erweitert und manche Bilder regelrecht zerstört. Dort, wo sich die Flügel des Vogels noch vor ein paar Stunden entfaltet hatten, schien nun ein riesiges düsteres Loch aus schwarzer Farbe zu klaffen.

Und inmitten der umgekippten Farbeimer hockte Zara vor der gläsernen Statue.
Sie war still, nur manchmal schniefte sie leise auf, streckte ihre Hand nach der Statue aus und zuckte dann wieder zurück, so als hätte sie sich verbrannt.

„Es tut mir leid. Es tut mir so leid", flüsterte Zara.
Ich wusste am Anfang nicht, ob sie mit sich selbst sprach oder nicht, doch dann wurde mir bewusst, dass sie ihre Worte wohl an das gläserne Mädchen gerichtet hatte.

Wie erstarrt stand ich mit dem Sandwich bei ihr im Zimmer und beobachte heimlich ihren Zusammenbruch.

Gerade als ich mich bemerkbar machen wollte, schrie sie auf einmal auf. Ein hoher heller Schrei voller Trauer und Schmerz, dann rollte sie sich auf dem Boden zusammen und rief immer wieder, dass es ihr leid täte.

Was tat ihr leid?
Ich wusste es nicht und es vergingen weitere Sekunden, in denen ich sie nur wie versteinert dabei beobachten konnte, wie sie sich in ihrem seelischen Schmerz hin und her wiegte.
Dann jedoch riss ich mich zusammen, befreite mich aus meiner Erstarrung und ließ den Teller mit dem Sandwich fallen. Ich lief auf sie zu, kniete mich in den See aus Farben und hielt sie fest.
Sofort krallten sich ihre Finger in den Stoff meines T-Shirts und sie vergrub ihren Kopf an meine Schulter.

„Ich wollte das nicht, du musst es mir glauben."
Zara weinte in mein T-Shirt und schüttelte immer wieder ihren Kopf.

Was machte man in solch einer Situation?
Ich versteifte mich und spürte, wie sich die Panik in meinem Körper breit machte.
Warum fühlte ich mich nur so hilflos?

Wie sollte ich Zara helfen können?
Unsicher, ob es etwas helfen würde, strich ich ihr über den Rücken, drückte sie an mich und flüsterte: „Alles ist gut."

Ich spürte wie sie erneut den Kopf schüttelte. „Nein, nichts ist und wird gut. Nie wird es wieder gut sein." Sie schniefte an meinem Hals und ich spürte ihren schnellen Herzschlag. Sie drückte weiterhin ihr Gesicht gegen meine Schulter, doch schien sich so langsam wieder zu beruhigen. Denn nun rückte sie etwas von mir ab und betrachtete verwundert ihren Körper, der über und über mit Farbe beschmiert war, dann mich und dann den Boden, wo sich ein Farbensee angesammelt hatte. Ihre Augen wurden groß.

Aber ich kam nicht umhin sie nach ihrer merkwürdigen Antwort zu fragen: „Warum wird es nicht wieder gut, Zara? Ich... Ich kann dir vielleicht helfen."

Auch wenn ich keinen Schimmer hatte, wie ich dies bewerkstelligen sollte.
Irgendetwas in mir, irgendein Gefühl, drängte mich dazu, ihr unbedingt beistehen zu wollen. Diesem Mädchen, das ich nicht einmal ein paar Tage kannte.

Sie riss ihren Blick von dem Farbensee los und blickte mir leicht erstaunt in die Augen, so als hätte sie fast wieder vergessen, dass ich auch noch anwesend war. Dann schüttelte sie den Kopf und stand auf.
„Du kannst mir nicht helfen. Keiner kann das."
„Aber warum, Zara?", fragte ich schon fast verzweifelt. Dieses Mädchen machte mich verrückt!

Ich stützte meine Hände auf dem Boden ab und beobachtete sie dabei, wie sie sich einmal gefasst die Locken aus dem Gesicht strich und dann zum Fenster lief. Es war bereits geöffnet, sodass sie sich einfach nur auf den Sims ziehen und ihre Beine hinausschwingen musste. Erst dann drehte sie sich noch einmal zu mir um und antwortete mit erschreckend trauriger und kalter Stimme: „Weil man mich nicht mehr retten kann. Das Schicksal hat meinen tieferen Sinn schon vor ein paar Jahren bestimmt."

Dann sprang sie und es fühlte sich so an, als hätte sie mit diesem Sprung eine unsichtbare Barriere zwischen uns aufgebaut.
Sie wollte alleine sein und ich wusste, dass dies wohl das Beste war. Als ich mich umdrehte, um die Treppe herunter zu gehen, trat ich in die Scherben des Sandwichtellers.
Ich hatte Schuhe an, also verletzte ich mich nicht, dennoch schrie ich kurz wutentbrannt auf. Denn diese Scherben erinnerten mich an Zara. Porzellanfarben und wunderschön, aber dennoch zerbrochen.
Ich drehte mich nicht mehr zu dem Farbensee und der gläsernen Statue um.

Denn um ehrlich zu sein machte mir das hier alles Angst.
Mein Blick fiel dennoch noch ein letztes Mal auf die Wand, die durch die Zeichnungen zum Leben erweckt wurde.

Doch das Flügelpaar würde nie wieder fliegen.
Oder die Fesseln nie wieder jemanden festhalten.

Komisch, dass Zara ausgerechnet das zerstört hatte, was sie am meisten zu lieben und zu hassen schien.

Vielleicht hatten die Fesseln über die Flügel gewonnen?
Ich wusste es nicht und im Moment war ich von all dem überfordert. Ich wollte jetzt nur noch die Farbe abduschen, mich ins Bett legen und das machen, was ich sowieso schon für meine Ferien geplant hatte:
Schlafen.

Das Mädchen aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt