Die Geschichte eines Kindes

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Etwas verwirrt betrachtete Guren seinen Freund, welcher weiterhin an die Decke starrte.
„Keine Ahnung. Vermutlich kurz bevor der Krieg mit der Hyakuya-Sekte offiziell angefangen hatte. Danach... naja, das weißt du ja. Aber wieso fragst du?"
Shinya schwieg kurz und seufzte dann.
„Ich... Meine Hände waren schon mit Blut bedeckt, bevor ich mein zehntes Lebensjahr erreicht hatte."
Guren wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Die Stimme des Scharfschützen war stumpf und ohne Emotion. Sein Atem war gleichmäßig und sein Blick wurde leicht abwesend. Es war, als würde Shinya nur eine einfache Geschichte erzählen, doch Guren wusste, dass mehr dahinter steckte. Deshalb blieb er stumm und lies seinen Freund erzählen.
„Schon mit fünf war ich in einem Kindergarten für besonders begabte Kinder. Wie du dir wahrscheinlich denken kannst, wurde dieser von der Hiragi-Familie geführt. Anfangs gefiel mir die Vorstellung besser zu sein als andere. Lernen und trainieren machte mir Spaß. Ich war der Beste. Doch eines Tages wurde ich nach Tokyo gebracht, genauer, nach Shibuya. Für mein Leben bekam meine Familie Geld und eine Rangerhöhung. Sie sollen sich angeblich tierisch gefreut haben. Ich dagegen war verzweifelt."
Guren entging  nicht der bittere Unterton in Shinyas Worte.
„Ich habe sie nie wieder gesehen. Höchstwahrscheinlich sind sie eh bei der Katastrophe an Weihnachten gestorben...
Naja, danach war es die Hölle. Jeden Tag ging es nur ums nackte Überleben. Man musste schneller, besser als die anderen sein. Jedesmal, nach einer gewissen Zeitspanne, gab es eine große Prüfung. Nicht unter den besten 30% zu liegen, bedeutete der Tod. In Kämpfen der Unterlegene zu sein, bedeutete der Tod. Und das meistens durch die Hand seines Gegners."
Der Ichinose schluckte. Ihm war schon immer bewusst gewesen, dass Shinya keine leichte Kindheit gehabt hatte. Doch so ein Auswahlverfahren, was selbst für Erwachsene schon nicht leicht zu verkraften war, mit Kindern durchzuführen, war einfach nur grausam. Ein Grund mehr die Hiragi zu hassen und eine Erklärung, warum das einzige Ziel seines Freundes die Vernichtung dieser gewesen war.
„Das war auch der Zeitpunkt, an dem ich angefangen habe, meine Emotionen und wahre Gedanken hinter einem Lachen zu verstecken. Es half mir. Mir fiel das Lernen noch leichter und in Kämpfen verunsicherte und provozierte es meine Gegner. Auch wenn es immer härter wurde, am Ende war ich der letzte Überlebende. Natürlich war ich glücklich und auch arrogant. Ich dachte, ich wäre der Stärkste. Doch dann traf ich Mahiru Hiragi. Ich war fasziniert und froh, dass meine offizielle Verlobte so wunderschön war. Aber das brauche ich dir ja nicht erzählen, du weißt das wahrscheinlich besser als jeder andere."
Der schwarzhaarige Mann schwieg.
„Jedoch im selben Moment, zerstörte sie alles, woran ich noch einen Sinn sah. Ich forderte sie zu einem Kampf heraus, den ich innerhalb weniger Sekunden verlor. Meine erste Niederlage im Leben. Und dann erklärte sie mir ohne mit der Wimper zu zucken, dass sie jemand anderes liebt, ich also keine Chance bei ihr habe. Anstatt eines Zuchthengstes, war ich nun ein Deckmantel für eine verbotene Liebe zwischen meiner Verlobten und einem Typen, den ich noch nicht einmal kannte, der mir aber die zweite Niederlage in Folge bereitete.
Ab da wurde mir bewusst, dass ich eigentlich nie wirklich einen Sieg errungen habe. Befehle und Wünsche anderer verursachten mir Leid und ich konnte nichts dagegen tun."
Shinyas Geschichte war tragisch, das war Guren bewusst. Doch diese erklärte immer noch nicht so richtig, was damals bei der Zusammenstellung des neuen Teams passiert war.
„Aber was genau hat das jetzt mit der Prüfung zu tun?"
Sein Freund wandte den Blick von der weißen Decke ab und sah ihn mit seinen blauen Augen traurig an.
„Wir waren Kinder, also war es nur natürlich, dass wir Freundschaften bildeten. Wir freuten uns, wenn wir beide es in die besten 30% schafften, doch es kam immer der Tag, an dem ich mich allein freute. Meine Freunde kamen und starben. In einer Prüfung stand ich meinem letzten Freund gegenüber. Die Aufgabe lautete zu siegen oder zu sterben. Fieberhaft habe ich nach einer Lösung gesucht, wie wir beide vielleicht überlebt hätten. Was wenn der Kampf unentschieden ausgehen würde, oder wenn einer von uns nur so tun würde als wäre er tot? Das wären meine Gedanken damals. Doch als ich gerade meine Ideen mit meinen Freund wollte, veränderte sich dessen Ausdruck. Sein Blick war kalt, seine Miene starr. Ich habe gefragt, was los sei. Seine letzten Worte waren ‚Töten oder getötet werden. So funktioniert diese Welt nun mal.', bevor er auf mich zustürmte und ich ihn aus Reflex erstach. In diesem Moment starb zwar er, doch er nahm etwas von mir mit. Diese Welt ist grausam und egal wie oft man neue Freunde findet, früher oder später werden sie sterben."
Shinyas Stimme zitterte und er versuchte krampfhaft die Tränen, die sich in seinen Augen sammelten wegzublinzeln.
Guren konnte nicht anders. Er lehnte sich vor und umarmte seinen Freund, welcher seinen Kopf in der Schulter des Schwertkämpfers vergrub.
„Das....tut mir Leid.", murmelte Guren.

Lange verharrten sie in dieser Position. Keiner sagte ein Wort. Nur das minimale Zittern von Shinyas Brust und Gurens Hand, mit welcher er sanft über die weißen Haare seines Freundes strich, verriet, dass die beiden nicht schliefen. Sie fühlten sich wohl, keiner der beiden wollte sich von dem jeweils anderen lösen. Um sie herum schien die Welt still zu stehen.
Erst jetzt bemerkte Guren, dass diese chaotischen Welt, gar nicht so chaotisch war. Eigentlich war sie extrem ruhig. Es war, als würde sie immer noch trauern. Als würde sie den Trubel, welcher durch die vielen Menschen entstanden war, vermissen. Sie alle kämpften doch nur, um das weiter nachzuahmen, um nicht ständig in dieser stillen Welt leben zu müssen. Tränen liefen Guren über das Gesicht. Was hatte er nur getan? Was war bloß mit ihm los? Es war seine Entscheidung, seine Schuld gewesen, dass die Welt so traurig geworden war. Dennoch bereute er es kein bisschen. Er würde es immer wieder so machen. Er war egoistisch, dass war Guren bewusst, doch es kümmerte ihn nicht. Sollten ihn doch alle hassen und verabscheuen, sollte er doch als Massenmörder gelten, es machte keinen Unterschied. Er nahm alles in Kauf, nur damit er seine Freunde bei sich haben konnte. Allein sie waren dafür verantwortlich, dass er es überhaupt hier noch aushielt. Wären sie nicht da gewesen, hätte er sich schon längst seinem Dämon hingegeben. Sie waren der Grund, warum er noch lebte, und er wollte sich nicht einmal vorstellen, was passieren würde, wenn ihre Körper das Zeitlimit erreicht hatten. Er konnte es nicht, sonst würde er daran zerbrechen.

Gureshin ~ Leben oder ÜberlebenΌπου ζουν οι ιστορίες. Ανακάλυψε τώρα