Kein Ausweg

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Langsam durchquerte er die grauen Gänge. Er hatte es nicht besonders eilig an sein Ziel anzukommen. Noch war es still. Bald würde es hier von Soldaten und Offizieren wimmeln. Dieses Gebäude war erdrückend. Ab und zu hingen an den Wänden Gemälde von den Hiragis. Schweigend blieb er vor seinem eigenen Bild stehen. Shinya betrachtete sein eigenes falsches Lächeln, welches er in diesem Moment auch aufgesetzt hatte.
Ja, das war sein Leben, wenn man es so nennen konnte. Es war falsch wie seine Emotionen, die er nach außen hin zeigte. Seit Mahiru „gestorben" war, hatte er seinen Grund zum Leben verloren.
Er schnaubte belustigt. Wie das klang. Er benötigte einen Grund zum Leben?
Shinya schüttelte den Kopf. Selbst wenn. Das, was er gerade hier tat, war nicht leben, es war das nackte Überleben. Aber das hatte er jetzt sicher mit seiner Rettungsaktion auch verwirkt. Er konnte es sich sowieso nicht erklären, warum die Hiragi Familie ihn nicht rausgeschmissen hatte, nachdem er seinen Zweck verloren hatte.
Der Scharfschütze wandte sich von seinem Porträt ab. Vermutlich wies er genügend Talent auf, um nicht sofort aufgefressen zu werden.
Er schmunzelte. In Wirklichkeit war er vermutlich einfach nur ein Schaf im Wolfspelz. Er versteckte seine wahre Natur um zu überleben. Nicht einmal seinen besten Freunden zeigte er sein echtes Ich. Wenn er ehrlich war, wusste er vermutlich mehr über jeden einzelnen von seinen Freunden, als alle fünf zusammen über ihn. Guren wusste vielleicht mehr. Ihm hatte Shinya seine wahren Motive offenbart. Jedoch hatte er alle für eben diesen aufgegeben. Das Wissen, welches sein bester Freund besaß, war nichtig, einfach nicht mehr vorhanden.
Abrupt blieb der Scharfschütze stehen. Unbewusst war er die tonlosen Gänge entlanggelaufen und stand nun vor Kuretos Büro. Das Hauptquartier war kompliziert aufgebaut, doch gab es keine Wegweiser oder irgendwas, was die verschiedenen Abteile unterschied. Nicht selten kam es vor, dass sich Leute hier verliefen. Aber Shinya war das gewohnt, dieses Graue und Gleiche. Kaum hatte er sich in einer neuen Umgebung wiedergefunden, wurde sein Leben wieder so monoton wie zuvor.
Unschlüssig stand er vor der schweren Tür, bis er schließlich klopfte.
„Herein."
Die Stimme war genauso kalt, wie Kuretos Miene, als Shinya den Raum betrat. Keiner der beiden könnte auch nur ansatzweise erahnen, was der andere dachte. Dennoch wussten beide, was gleich passieren würde.
Langsam stand der ältere Bruder auf und umrundete seinen Schreibtisch. Er verschränkte die Arme und fixierte Shinya mit seinen braunen Augen.
„Ich vermute, du weißt warum du hier bist?"
Der Scharfschütze wusste genau, was der Generalleutnant meinte, doch er stellte sich erstmal dumm.
„Hmm, weiß nicht. Vermutlich wolltest du mir persönlich danken, dass ich den Anführer der Monddämon gerettet habe. Hätte ein schlechtes Licht auf dich geworfen, wenn ausgerechnet der Anführer gestorben wäre, nachdem du das Kommando an dich gerissen hattest."
Kureto schwieg kurz und betrachtete das unschuldige Lächeln seines Adoptivbruders. Dann schnaubte er belustigt.
„Ich schätze es sehr, wie du versuchst meine Reputation zu beschützen. Aber dennoch sagtest du vor allen, dass ich sie nur als -wie war das?- ,Bauernopfer' sehe."
Shinyas Grinsen wurde breiter.
„Aber Kureto-nii-san~, das ist doch alles was du in ihnen siehst. Ich habe nur die Wahrheit gesagt."
Jetzt fing auch Kureto an zu lächeln, als er antwortete: „Ja, da hast du recht. Jedoch..."
Seine Miene wurde ernst und bedrohlich. Er schritt auf den Scharfschützen zu und packte ihn am Kragen.
„... kommt das nicht sehr gut, wenn diese die Wahrheit erfahren. Dadurch werden sie nur halb so gut."
Shinya lief ein Schauer über den Rücken. Ihm war klar, dass Kureto vermutlich keine bessere Kindheit gehabt hatte, wie er selbst. Doch wie musste man ein Kind erziehen, dass es sich zu so einem grausamen und rationalen Mann entwickelte?
Der Generalleutnant löste seinen Griff und drehte dem weißhaarigen Mann den Rücken zu.
„Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Was mich eher interessiert", er drehte sich und drückte Shinya gegen die Wand, bevor dieser überhaupt richtig realisierte, was gerade geschah, „wie kannst du es wagen, mir vor allen zu widersprechen und meine Befehle bewusst zu ignorieren?!"
Kuretos Stimme dröhnte in Shinyas Ohren. Auch wenn letzterer es nur ungern zugab, Kureto weckte die Angst und den Instinkt zu fliehen in ihm. Dennoch grinste er weiter. Es hatte ihm bis jetzt immer geholfen, es gab ihm Sicherheit.
„Ich hab getan, was richtig war."
Mit dieser Antwort fing er sich einen Faustschlag ins Gesicht ein.
„Aha. Meine Befehle zu ignorieren ist also richtig?"
„Ja", grinste Shinya.
Der nächste Schlag traf ihn direkt in der Magengrube und er krümmte sich vor Schmerz zusammen. Doch der Generalleutnant zog ihn wieder hoch, sodass er ihm wieder ins Gesicht sehen musste.
„Du gibst also alles auf, nur für diesen Ichinose?"
Bevor der jüngere Bruder antworten konnte, traf ihn ein weiterer Schlag ins Gesicht.
„Ist dir eigentlich bewusst, wem du es zu verdanken hast, dass du überhaupt noch hier sein darfst, dass du dich noch einen Hiragi nennen darfst?"
Ein weiterer Schlag. Schmerzerfüllt keuchte Shinya auf.
„Ich hab dir einen Zweck, einen Sinn gegeben."
Der Scharfschütze schnaubte belustigt.
Du hast mir einen Sinn gegeben? Dass ich nicht lache. Alles was du mir gibst sind Befehle, die besagen, dass ich meinen Freund im Stich lassen muss!"
Kureto lachte und verpasste Shinya ein weiteres Veilchen.
„Deinen Freund? Hast du nichts gelernt in deinem Leben? Hier gibt es keine Freunde und selbst wenn, früher oder später werden sie eh sterben. Du glaubst, du hast Ichinose gerettet? Alles was du getan hast, ist seinen Tod aufzuschieben!"
Der Generalleutnant lachte, während er weiter auf den adoptierten Hiragi einschlug. Doch Shinya wehrte sich nicht. Wieso auch? Ihm fehlte die Kraft und der Wille. Er starrte einfach weiter seinen Bruder an, grinsend ohne genau zu wissen, warum.
Als Kureto merkte, dass seine Schläge nichts mehr brachten, ließ er seinen Bruder los. Dieser stand auf seinen zitternden Beinen und betrachtete leicht benommen den Generalleutnant. Er wehrte sich zwar nicht aktiv, doch vor Kureto zusammenbrechen, nein, diesen Sieg würde er ihm nicht gönnen. Der braunhaarige Mann zog leicht eine Augenbraue hoch. Dann schnaubte er leise und drehte sich weg.
„Ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt. Und jetzt verschwinde."
Shinya griff nach der Türklinke und stolperte aus dem Büro. Bevor die Tür wieder ins Schloss fiel, konnte er noch einen Blick auf seinen Bruder werfen. Dieser hatte sich wieder zu seinem Schreibtisch begeben und sein Gesicht war für den Scharfschützen sichtbar. Keine Freude, nicht einmal ein bisschen amüsiert sah er aus. Nur der selbe kalte Ausdruck wie immer. Als wenn gerade nichts passiert wäre. Der Generalmajor schüttelte den Kopf, was er daraufhin sofort wieder bereute. Vor seinen Augen drehte sich alles und ihm wurde übel.
Langsam tastete er sich an der Wand entlang den Gang entlang. Diesmal hatte er wirklich keine Ahnung, in welche Richtung er lief. Dann knickte seine Beine ein und er rutschte erschöpft auf dem Boden. Er schmeckte Blut in seinem Mund. Auch seine Kopfwunde schien wieder aufgegangen zu sein. Abgesehen von seinem Bein, welches er immer noch nicht versorgt hatte, spürte er nun auch höllische Schmerzen in seinem Oberkörper. Kureto hatte einen echt heftigen Schlag drauf.
Shinya schloss seine Augen. Was tat er hier eigentlich? Früher hätte er es nie soweit kommen lassen. Früher wäre er schlau genug gewesen, einfach die Befehle der Höhergestellten zu befolgen und hätte nicht seine persönlichen Gefühle dazwischen funken lassen. Gefühle? Er dachte, er hätte sie schon so lange unterdrückt, dass sie schließlich einfach verschwunden wären. War das auch früher gewesen? Früher? Heute? Morgen? Spielte das überhaupt noch eine Rolle? Würden sie nicht alle sowieso früher oder später sterben? Hatte Kureto denn nicht einfach Recht gehabt? Hatte er nicht einfach nur Gurens Tod hinausgezögert? Hatte er nicht einfach versucht das Unvermeidliche zu vermeiden? Wieso...? Wieso hatte er für einen Freund, den im Endeffekt eh niemand retten kann, der sowieso alles verlieren und sterben wird, wieso hatte er für diesen seine eigenen Ziele aufgegeben, warum hatte er für ihn seine Chance aufs Überleben weggeworfen?
Shinya war verwirrt. Er suchte eine Lösung, doch seine eigenen Gedanken verwirrten ihn nur noch mehr.
Wer war er? Wo war er? Was machte er?
In dem Moment vergaß er alles, was er geglaubt hatte zu wissen.
Er lachte.
Lachte über seine eigene Unwissenheit, lachte über die Welt, über die hoffnungslose Situation, in der sie sich befanden, er lachte über seine idiotische Idee, Freunde zu haben und gleichzeitig überleben zu können.
Er lachte; und das über sich selbst.
Die Zweifel zerfraßen ihn und er wusste keinen Ausweg. Er saß einfach nur da. Tränen vermischten sich mit seinem Blut, das Lachen hallte durch die grauen Gänge und blaue Augen, so leer, starrten ins Nichts.
Die Zweifel zerfraßen ihn und er wusste keinen Ausweg. Doch es war ihm egal. Alles war egal.

Gureshin ~ Leben oder ÜberlebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt