Kapitel 1

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Lukas' Worte hatten eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Wie ein Tsunami waren sie über meinem sicheren Hafen eingebrochen und ließen meine Welt in absolutem Chaos zurück. Dies wurde mir spätestens dann klar, als ich meinem Dad in seinem Arbeitszimmer gegenüber saß. Ich hatte diesen Raum immer gemocht. Das gedämpfte Licht, die weinroten Wände mit der dunklen Holzvertäfelung. Es hatte stets eine gemütliche Atmosphäre versprüht, nahezu etwas Beruhigendes an sich gehabt. Doch leider blieb die gewünschte Wirkung dieses Mal aus. Denn ich hatte mich noch nie so unwohl in meiner Haut gefühlt, wie in dem Moment, als ich erstarrt auf dem gepolsterten Ledersessel saß und meinen Dad über den Schreibtisch hinweg fassungslos anstarrte.

Wie ich hier gelandet war? Seit dem Vorfall im Krankenhaus waren zwei Tage vergangen. Zwei Tage, in denen ich kein einziges Wort mit Dad gewechselt hatte. Zwei Tage, in denen ich nicht den blassesten Schimmer hatte, wie es künftig weiter gehen würde. Die ganze Zeit über hatte ich darauf gewartet, dass Dad das Gespräch zu mir suchte, dass er mich auf das ansprach, was passiert war. Aber er hatte sich in Schweigen gehüllt - eine Eigenschaft, die wir wohl gemeinsam hatten.

Selbst auf der Autofahrt nach Hause hatten wir nicht ein einziges Wort miteinander gewechselt. Als wir schließlich zuhause angekommen waren, hielt ich es nicht mehr aus, ein Gespräch war mir unausweichlich erschienen. Also fasste ich mir ein Herz und hatte mit vor Aufregung schwitzigen Hände an seine Bürotür geklopft.

Nachdem ich keine Antwort erhalten hatte, war ich einfach eingetreten. Dad hatte vor dem Fenster gestanden und nachdenklich nach draußen geschaut, die eine Hand in der Hosentasche versteckt, während er in der anderen ein Glas mit einer goldbraunen Flüssigkeit hielt.

Es war nichts ungewöhnliches daran, dass Dad sich hin und wieder einmal ein Glas Whiskey genehmigte, doch wusste ich genau, dass es in diesem Moment ein trauriger Versuch gewesen war, den Kummer, den ich ihm bereitete, in Alkohol zu ertränken.

Die Dämmerung draußen hatte bereits eingesetzt und dicke, weiße Schneeflocken waren hinter der Fensterscheibe leise vom Himmel herab gerieselt.

Bei meinem Eintreten hatte Dad sich nicht von der Stelle gerührt, als hätte er auch ohne hinzusehen gewusst, dass ich es war. Selbst als ich ihn ansprach, hatte er mich anstatt einer Antwort weiterhin mit seinem Schweigen gestraft und so war ich gezwungen, eine gefühlte Ewigkeit einsam und verlassen im Raum zu stehen. Ich hatte mich unwohl gefühlt, nackt.

Als Dad sich schließlich zu mir umgedreht hatte und mich aus tieftraurigen Augen ansah, brach es mir regelrecht das Herz. Ich konnte die Schuld sehen, die sich wie ein unsichtbarer Schleier über sein Gesicht gelegt hatte. Er fühlte sich verantwortlich, schuldig für das, was mir angetan worden war. Er machte sich Vorwürfe. Ich wusste genau, was in diesem Moment in ihm vorgegangen war; er dachte, als Vater versagt zu haben.

Ich hatte gar nicht anders gekonnt, als wortlos und mit schnellen Schritten den Raum zu durchqueren, um den Schreibtisch herum zu gehen und Dad in die Arme zu schließen, während ich mein Gesicht tief in dem weichen Baumwollstoff seines Hemdes vergrub. Offenbar hatte er mit meiner Umarmung ebensowenig gerechnet gehabt, denn zunächst schien er überrascht. Doch einen Augenblick später hatte ich auch schon seine Hand gespürt, die beruhigend auf meinem Rücken auf und ab strich. Einige Sekunden waren wir in dieser Position verharrt.

»Du konntest es nicht wissen, Dad«, hatte ich ihm leise zugeflüstert, was ein kläglicher Versuch war, ihm den Schmerz zu nehmen, der durch dieses Wissen von nun an sein täglicher Begleiter sein sollte.

Nachdem Dad sich ein wenig gesammelt hatte, verlangte er von mir, dass ich mich hinsetzen sollte und mir war klar, dass nun der unangenehme Part folgen würde. Zu meiner Erleichterung hatte er mich jedoch nicht dazu gezwungen, ihm die ganze Geschichte mit Adam in aller Ausführlichkeit zu erzählen. Womöglich hatte mein Bruder das bereits getan, aber nichtsdestotrotz war ich einfach nur dankbar dafür gewesen, all die schrecklichen Momente nicht noch einmal erleben zu müssen.

Please stay with meWhere stories live. Discover now