Kapitel 14

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Nichts an ihr war hart. Die Härte verbarg eine verstörte Kämpferin. Aber das sahen nur wenige, oder nur wenige wollten es sehen. Die meisten sahen in ihr das, wozu die Regierungen sie gemacht hatten: ein strengstens zu kontrollierendes Sicherheitsrisiko.
Ohne sie wirkte das Hauptquartier mit seiner sterilen Einrichtung und den riesigen, gepflegten Gärten noch härter als ohnehin schon.
Seitdem sie wieder weg war, beschäftigte sie ihn in jeder freien Minute.
Ihr schönes Lächeln, das sie so selten zeigte.
Die Art, wie ihre Stimme auf und ab schwankte, wenn sie versuchte, etwas zu erklären. Ihre schlanken, weißen Hände und ihre Angewohnheit, darauf herum zu drücken. Das Glitzern in ihren Augen, wenn sie alte amerikanische Klassiker sah und die vollkommene Konzentration, mit der sie die Saiten ihrer Gitarre zupfte.
Vision blieb stehen, weil ihm auffiel, dass er in seiner Abwesenheit den falschen Weg lief.
Der Kopierraum lag im zweiten Stock und er war auf dem Weg in den dritten.
Tony hatte ihm einen Stapel Verbrecherakten ausgehändigt mit dem Auftrag, sie zu kopieren.
Es waren alte Fälle aus Tonys Einzelgänger-Vergangenheit, mit denen er sich in seinem Avengers-Freijahr nun näher beschäftigen wollte.
Tony hatte große Pläne für dieses Jahr. Er hatte Praktika, Stipendien, Sponsoringdeals im Namen von Stark Industries vergeben und arbeitete nebenbei noch hobbymäßig an technischen Neuerungen, unter Anderem an einem Prototyp, der Zeitreisen ermöglichen sollte.
Was für ein Jahr, um sein Sekretär sein zu dürfen.
Aber das war Vis nicht genug, es langweilte ihn - nicht, dass er das Tony gegenüber jemals zugegeben hätte.
Seufzend machte er auf dem Absatz kehrt und lief Treppe wieder hinunter. Unten angekommen stellte er fest, dass er die Orientierung verloren hatte.
Das Hauptquartier war gigantisch und nahezu alles sah gleich aus; selbst er fand sich in diesem Gebäude nicht immer zurecht.
Auf einmal fiel ihm eine ein klein wenig offen stehende Tür ins Auge.
Bei näherem Hinsehen wurde er von ihr angezogen. Es handelte sich um die Tür zu ihrem Zimmer.
Sanft drückte Vision die Tür auf. Als bestünde die Möglichkeit, dass jemand drinnen war. Aber natürlich war der Raum leer.
Er sah noch genauso aus, wie sie ihn zurückgelassen hatte.
Er war in einheitlichen, schlichten Farben gehalten. Moderne, dunkle Holzmöbel.
Wände und Vorhänge im gleichen tristen Grauton, ein beiger Teppich und ein überfülltes Bücherregal.
Außerdem zahlreiche Platten von Cat Stevens auf dem Couchtisch und kleine Flaschen mit Duftölproben, die wild durch das ganze Zimmer verstreut waren.
Vision trat ein und legte den Stapel Papiere auf ihrer Kommode ab. Dann lief er zum Bett und ließ sich darauf nieder. Seine Hände griffen in die fliederfarbene Bettdecke und er sah aus dem Fenster.
„Vision.", rief eine gereizte Stimme ihn aus seinen Gedanken.
"Mr Stark."
Tony war in den Raum gekommen. Mit großen Schritten ging er zum Bett hinüber, setzte sich neben Vision und sah ihn prüfend an.
„Du... du denkst an die kleine Maximoff.", sagte Tony und blickte sich im Zimmer um.
„Natürlich nicht.", entgegnete Vision ihm ruhig. Tony sah ihn zweifelnd von der Seite an, sein Blick sprach Bände.
Vision wusste, er war kein besonders guter Lügner. Seine Augen wanderten zum Boden auf den beigefarbenen Teppich.
Plötzlich legte Tony ihm seine Hand auf die Schulter. Er zuckte überrascht zusammen, diese Geste war er nicht gewohnt.
Eine Weile ließ Tony seine Hand schweigend auf Visions Schulter liegen. Dann drehte er sich zu ihm und sah ihn mitfühlend an, und Vision hatte das Gefühl, dass es ihm ernst war.
"Ob du's glaubst oder nicht, ich verstehe dich.", sagte Tony. Dann zog er seine Hand weg und stand auf. Den Papierstapel, den er in der anderen Hand hielt, legte er andeutend neben Vision aufs Bett.
"Die hier noch und dann hast du Feierabend."
"In Ordnung, Mr Stark.", sagte Vis nickend.
Tony gab sich damit zufrieden und verließ kopfschüttelnd das Zimmer.
Noch ein paar Minuten blieb Vis sitzen und sah die bunten Karnevalsmasken an der Wand über dem Bett an. Er war dankbar für Tonys Versuch, ein Stückchen Empathie zu zeigen.
Aber Tony würde nicht verstehen können, was er fühlte, wenn er es doch selbst nicht genau verstand.
Bevor er den Raum verließ, machte er einen Abstecher zum Couchtisch und ging davor in die Knie. Er nahm eins der Alben in die Hand und betrachtete es. Es war ein Album aus dem Secondhand-Handel mit den entsprechenden Vergilbungen an den Rändern und dem gewissen Altpapiergeruch.
Vis zog die Platte vorsichtig aus der Hülle und legte sie in den Plattenspieler auf der Kommode.
Dann drückte er auf Start und schloss die Plexiglashaube.
Bald schon setzte sich die Nadel in Bewegung.
Die ersten Sekunden von 'Oh Very Young' füllten die Stille des Raumes. Es war eines von Wandas Lieblingsliedern.
Fasziniert lauschte Vis ein paar Sekunden lang, bevor er ging, um seine Arbeit zu erledigen. Die Platte ließ er laufen und sie tönte den ganzen übrigen Nachmittag lang durch die geschlossene Tür auf den Gang und ins Treppenhaus hinaus.

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