Kapitel 8

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"Wir sind fast da.", verkündete Steve von vorne. Wanda öffnete die Augen und blinzelte ein paar Mal, um sich an das Sonnenlicht zu gewöhnen. Mit diesem amerikanischen Wetter hatte sie noch keine Freundschaft geschlossen. In Sokovia, wo sie herkam, kannte man keinen blauen Himmel.
"Oh, mann.", sagte Sam, der auf dem Beifahrersitz saß. „Wer hätte gedacht, dass wir den Klotz so schnell wiedersehen?"
Er zeigte mit dem Kinn auf das riesige, moderne Gebäude, dass sich vor ihnen in die Höhe streckte. Da war es, das Hauptquartier.
Umgeben von einer Landschaft aus Feldern, Hangaren, Garagen und Landeplätzen. Seltsamerweise freute Wanda sich sogar ein wenig, wieder hier zu sein. Es fühlte sich an wie nach Hause kommen. Ein Gefühl, das sie seit ihrer Kindheit nicht mehr verspürt hatte.

Ein paar Stunden später kniete Wanda vor dem Bücherschrank in ihrem alten Zimmer. Hin und wieder kramte sie das ein oder andere Buch heraus und schob es in ihre Tasche. Sie war sehr froh über Steves Beschluss, vor der Abreise nach Schottland noch eine Nacht im Hauptquartier zu verbringen, denn so konnte sie einige wichtige Dinge einpacken. Und sich von anderen wichtigen Dingen verabschieden.
Sie atmete auf und sah sich um. Eigentlich wollte sie das ganze Zimmer einpacken. Es war voll mit Dingen, die ihr wichtig waren.
Seufzend zog sie den Reißverschluss ihrer Tasche zu. Dann ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Es war weich und angenehm kühl und vor allem war es nicht fremd. Auch wenn sie es all die Monate nicht hatte wahrhaben wollten, dieser Ort war ihr Zuhause. Er war es... gewesen.
Nachdem sie eine geraume Zeit einfach nur dagelegen hatte, brachte sie sich dazu, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Die Gitarre! Die durfte sie nicht vergessen! Aufmerksam durchforstete sie das Zimmer und entdeckte sie schließlich unter dem Couchtisch. Lächelnd zog sie das verstaubte Instrument hervor und wischte es mit der Innenseite ihrer Strickjacke ab. Dann begann sie, die ersten Töne von „Father and Son" zu zupfen. Fünf Monate war sie weg gewesen und sie konnte das Lied immer noch. Ein paar Minuten lang saß sie da und spielte und genoss den vollen Klang der Gitarre. Als sie das Lied zu Ende gespielt hatte, lehnte sie sich zurück und ließ ihre Finger noch eine Weile auf den Gitarrensaiten ruhen. In ihrem Augenwinkel erschien eine kleine Träne, die ihre Wange herunterlief.
"Hast du fertig gepackt?"
Wanda fuhr erschrocken herum und wischte die Träne weg. Im Türrahmen stand Steve. Sie lächelte.
„Leider.", murmelte sie. Steve kam in das Zimmer und setzte sich neben sie. „Das war schön, was du gespielt hast.", sagte er.
„Danke.", sagte Wanda, den Blick auf dem Boden.
„Hör zu..." Steve sah sie an, „Ich weiß, dass du nicht nach Schottland willst. Aber vertrau mir, es ist der einzige Ausweg für uns. Wir werden das Beste daraus machen."
„Natürlich, das tun wir immer.", sagte Wanda nickend.
„Warum entspannst du dich nicht noch ein Bisschen?", fragte Steve. „Wir haben eine lange Reise vor uns morgen."
Wanda nickte zustimmend.

Wieder ein wenig später war sie unterwegs in die Bibliothek des Hauptquartiers, den ihrer Meinung nach schönsten und gemütlichsten Raum im ganzen Haus, Vis hatte ihn ihr gezeigt.
Letzterer hatte sich seltsamerweise den ganzen Tag noch nicht blicken lassen. Wanda begann sich zu fragen, wo er steckte. Morgen würde sie sich schließlich von ihm verabschieden müssen und sie war ganz bestimmt nicht bereit dafür.
Sie hatte vor, klare Verhältnisse zu schaffen. Die Unsicherheiten zu beseitigen, bevor sie ihn erneut verlassen musste.
Er hatte ihr einige wunderschöne Momente beschert, aber war das Freundschaft? Mitleid? Zwang, weil sie miteinander leben mussten, Schicksal, oder etwas mehr? Oder viel mehr?
Ihr Kopf war voll mit Fragen, deren Antworten sie noch brauchte und Wünschen, wie diese Antworten lauten mochten.
Sie war vor der Tür der Bibliothek angekommen.
Als sie die Türklinke berührte, begann ihr Kopf augenblicklich zu pochen. Wanda verwünschte innerlich die Kopfschmerzen.
Ihre heimliche Hoffnung hatte sich erfüllt. Vis war in der Bibliothek, sie konnte ihn spüren. Ihr Kopf täuschte sie nie.
Leise öffnete sie die Tür und spähte vorsichtig ins Zimmer.
Da saß er, in einem der großen Sessel vor dem Fenster und schien nicht bemerkt zu haben, dass die Tür aufgegangen war. Wahrscheinlich las er.
Nun kam Wanda ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Sie fiel lauter ins Schloss, als sie sollte und Vis drehte sich um.
Als er sie ansah, brachte Wanda zunächst kein Wort heraus. Sie lächelte einfach nur verlegen und lief hinüber zur Sofaecke, mit den weiten Ärmeln ihres schwarzen Langarmshirts spielend.
„Hey.", sagte sie leise, während sie auf dem Klavierhocker hinter dem weißen Flügel Platz nahm.
"Hallo, Wanda." Vis sah von seinem Buch auf und grüßte mit einem Lächeln zurück. Diesem wundervollen Lächeln, das sie so vermisst hatte, das dieses wohliges Gefühl in ihrer Magengegend auslöste.
„Wann seid ihr angekommen?", fragte er.
"Vor ein paar Stunden, ich habe dich nicht gesehen."
Sie griff nach einem Notenheft, das auf dem Flügel lag und begann es durchzublättern.
Jemand hatte mit Bleistift kleine Anmerkungen über die Partitur gemacht.
"Wer spielt denn hier Beethoven?", überlegte sie belustigt.
"Sagen wir, ich versuche es.", gab Vision zaghaft zu.
Wanda weitete überrascht die Augen.
"Vision, seit wann?", wollte sie wissen.
"Seit dem 'Bürgerkrieg'." So nannten sie teamintern den alles verändernden Streit.
"Irgendetwas, das ich hören sollte?"
"Vermutlich nicht.", winkte Vision ab.
"Oh, komm schon!", bat sie beharrlich.
Er schüttelte verneinend den Kopf.
"Du bist gerade erst angekommen."
Sie schaute erwartungsvoll drein. "Das heißt, wenn ich eine halbe Stunde warte, höre ich etwas?"
"Mal sehen." Vision lächelte und deutete auf den freien Sessel neben ihm. Gehorsam nickend schob Wanda sich darauf.
Da saßen sie nun wieder und unterhielten sich, als sei nichts passiert in den letzten Monaten. Als sei sie nie weg gewesen. Es war ein ausgelassenes, wenn auch unaufdringliches Gespräch ohne jegliche Anspannung, falsche Gefühle und erzwungenes Gelächter. Es war echt. Und beide wusste einmal mehr, warum der andere ihnen so sehr gefehlt hatte.
Dann aber, nach einer guten Stunde, wurde Wandas Miene plötzlich nachdenklich.
„Vis?"
Er hob den Kopf, um sie fragend anzusehen.
„Ich muss dir etwas anvertrauen."
Vis nickte, wirkte aber etwas konfus.
Wanda drückte, wie so oft, auf ihren linken Fingern herum.
"Ich werde heute Einundzwanzig."

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