Kapitel 3

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„Wanda!"
Die Stimme kam aus der Ferne.
„Wanda!" Nun wurde sie lauter.
Langsam öffnete Wanda die Augen und blickte sich um. Sie lag auf dem Boden, auf der Rollbahn des stillgelegten Berliner Flughafens. Ihre Erinnerung kam langsam zurück. Sie hatte gekämpft. Gekämpft und verletzt.
„Wanda!", hörte sie die Stimme wieder sagen. Sie kam näher.
Zwei starke Arme umfassten sie von hinten. Sie zuckte kurz zusammen, drehte den Kopf und sah in ein besorgtes Gesicht, es war Vision.
Jetzt waren Wandas Erinnerungen wieder intakt. Ja, sie hatte gekämpft. Sie war auf der Flucht gewesen mit ein paar ihrer Kameraden. Sie ging die Namen im Kopf durch, um sich ihres vollen Bewusstseins sicher zu sein: Steve, Scott, Sam, Clint, James. Keinen von ihnen konnte sie in näherer Umgebung ausmachen. Der Captain muss es geschafft haben, dachte sie. Sie müssen geflohen sein. Vision und die anderen hatten versucht, sie aufzuhalten, wobei sie im Gefecht einiges abbekommen hatte.
Sie erschrak für den Bruchteil einer Sekunde. Das hieß, sie waren Gegner... richtig?
Es hatte nicht den Anschein, denn Vision hielt sie behutsam im Arm. Aber sie spannte ihre Muskeln an, um sich, falls nötig, loszureißen.
„Wanda, geht es dir gut?", fragte Vision.
„Ja.", antwortete sie atemlos.
„Es tut mir Leid.", sagte Vision.
Wanda wusste nicht recht, ob er derjenige sein sollte, der sich entschuldigte. Sie hatte ihn verletzt. Aber sie hatte es getan, um ihre Freiheit zu bewahren.
"Mir... mir auch.", sagte sie leise.
„Es ist, wie ich sagte... eine Katastophe."
Wanda nickte mit einem Kloß im Hals. Jetzt schätzte sie es, ihn ansehen zu können. Denn sie würde ihn nicht mehr lange sehen, das wusste sie. Sie hatte das Gesetz gebrochen.
Vision sah sie nun auch an. Ihr gefiel die Art, wie er sie ansah. Sie wünschte sich, er würde nicht damit aufhören.
Doch dann - dann verschwand er. Und sie wachte auf.

„Vision.", murmelte Wanda im Halbschlaf. Sie wollte sein Gesicht zurück. Aber stattdessen sah sie nichts als Dunkelheit.
Sie öffnete die Augen, diesmal wirklich, und fand sich in Mrs Carters - ihrem - Schlafzimmer wieder. Ihr Blick fiel auf die zermachte Decke, die am Fußende des Bettes lag. Obwohl sie schon ein paar Wochen hier wohnte, hatte sie sich immer noch nicht ganz eingelebt. Sie fröstelte.
Wieso hatte sie von Vision geträumt?
Sie setzte sich im Bett auf. Wie spät war es überhaupt?
Auf jeden Fall war es draußen noch dunkel und durch ihre zugezogenen Vorhänge schien ein heller Mond. Zwei Uhr morgens, stellte sie mit einem kurzen Blick auf ihren Wecker fest.
„Verdammt!" flüsterte sie auf russisch zu sich selbst und ließ sich zurück in ihr Kissen fallen.
Vision. Warum konnte sie nicht aufhören, an ihn zu denken?
Sie ließ die vergangenen Monate kurz Revue passieren.
Zunächst war sie nur furchtbar wütend auf ihn gewesen. Wütend, dass er sie nach der Schlacht gegen Ultron aus den Trümmern von Sokovia gerettet hatte, dass er sie nicht zusammen mit ihrem Bruder in ihrer Heimat hatte sterben lassen.
In ihren ersten Wochen im Avengers-Hauptquartier hatte sie die Nächte durchgeweint, manchmal sogar geschrien, bis sie heiser war.
Irgendwann hatte er begonnen, während ihrer schlimmen Episoden nach ihr zu sehen.
Und in einer Nacht hatte sie ihn hineingebeten, und dann hatte er in der Dunkelheit ihres Zimmers still am Fenster gesessen. Er musste gar nichts anderes tun. Und sie hatte mit geröteten Augen dagelegen und versucht, sich von ihren Anfällen zu beruhigen. Ein paar Wochen lang bat sie ihn zu sich, wenn es ihr sehr schlecht ging, und der Rest verlief in Schweigen.
Erst, als sie dazu in der Lage war, wechselte sie hin und wieder ein paar Sätze mit ihm - ohne ihn dabei anzusehen. Und er antwortete, ohne sie anzusehen. Das empfand sie als angenehm.
Und es wurden mehr Sätze, und aus Sätzen wurden Gespräche - noch immer ohne Blickkontakt. Wochenlang, monatelang.
Zu dieser Zeit hatte sie bereits begonnen, ihr Zimmer wieder zu verlassen und sich zu Mahlzeiten zu den anderen zu gesellen.
Sie fing an, nach draußen zu gehen und mit Menschen zu sprechen. Sie nahm das Gitarrespielen wieder auf und ließ sich zum Avenger ausbilden, um Pietros Tod die gebührende Ehre zu verleihen.
Noch immer weinte sie jede Nacht und sie wusste, das würde auch so bleiben.
Aber sie war nicht mehr allein.
Sie hatte herausgefunden, dass Vision ein schrecklicher Koch, aber ein großartiger Zeichner war. Er hatte ihr ab und zu auf ihren Wunsch hin Zeichenunterricht erteilt.
Und sie hatte ihm, auf seinen Wunsch hin, auf der Gitarre vorgespielt. „Father and son" von Cat Stevens. Es war alles, was sie konnte, und sie konnte es nicht mehr besonders gut, aber es gefiel ihm, und das war die Hauptsache.
Und nun - es stand niemand vor ihrer Tür.
Und Wanda fragte sich, warum sie seinetwegen wachlag.
Vision war zwar nahezu menschlich...
Sie wollte den Satz nicht zuende denken.
... aber er war ein Android, basierend auf einer digitalen künstlichen Intelligenz. Ein Roboter.
Sie hatte diesen Begriff inzwischen hassen gelernt. Für sie war er eine Fehlbezeichnung.
Sie hatte seine "Geburt" vor etwa drei Jahren selbst miterlebt.
Tony Stark und Bruce Banner hatten das Assistenzprogramm JARVIS in einen 3D-gedruckten menschlichen Körper hochgeladen, um einen Verbündeten im Kampf gegen Ultron zu schaffen.
Er hatte sie fasziniert, seit er „geboren" worden war. Er war so schuldlos, so wunderbar im Gleichgewicht zwischen gut und schlecht.
Wanda begann zu überlegen.
Sie vermisste alle ihre Kameraden. Natasha, Rhodey... gut, Tony vermisste sie nicht. Aber Vision. Sie stellte fest, das sie ihn von allen am Meisten vermisste. Je länger sie an ihn dachte, desto größer wurde das Loch, die Leere in ihrem Bauch. Es war so unangenehm. Ihr Herz schlug schneller. Ja, es war Vision.
Das konnte nicht normal sein. Wanda wollte nicht so denken, aber es war die Wahrheit. Er war ein Android, wie war das möglich? Wie konnte er ihr fehlen? Ihr Herz begann, noch schneller zu schlagen. Sie musste aufhören, an ihn zu denken. Sie wollte das nicht... und sie wusste nicht, ob er das wollte.
Noch immer verspürte sie keinen Anflug von Müdigkeit. Schlafen tat er mit aller Sicherheit auch nicht.
Wieder setzte Wanda sich auf.
Sie konnte nicht liegen bleiben.
Sie stand auf und lief zum Fenster, dann zog sie den Vorhang auf und sah nach draußen.
Sie fragte sich, in welche Richtung das Hauptquartier lag. Es beunruhigte sie, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie war.
Sie ließ sich auf dem Boden vor dem Fenster nieder und stützte ihren Kopf in ihre Hände. Verdammt, ja, er fehlte ihr. Er war menschlicher, als sie es je gewesen war.
Ein paar Tränen begannen, ihre Wangen herunter zu laufen. Sie wischte sie nicht weg. Jetzt war es ihr egal, ob sie wahnsinnig oder seltsam war. Sie schloss die Augen, lehnte sich zurück und weinte sich in den Schlaf.

Westering Home - Wanda's Vision Donde viven las historias. Descúbrelo ahora