Kapitel 29

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Ich kann es kaum fassen, als ich erneut einen Brief von Tante Anne in den Händen halte. Der Winter ist bereits weit fortgeschritten und ich habe schon gedacht, niemals einen Brief zurück zu bekommen. Doch nun halte ich eine Antwort in den Handen. Neugierig setze ich mich ans Feuer und öffne sauber den Umschlag.

Liebe Ruby,
sowohl dein Brief, als auch William sind wohlbehalten in Brighton angekommen. Du glaubst gar nicht, wie groß die Freude im Dorf war. Doch gleichzeitig waren alle auch sehr traurig, dass du nicht zurückgekehrt bist. William hat mir alles erklärt und ich finde die Entscheidung von dir sehr reif. Auch wenn ich dich vermisse, ich muss deine Entscheidung akzeptieren. Dennoch möchte ich es mir nicht entgehen lassen, dich besuchen zu kommen. Allerdings werde ich deinen Rat befolgen und das erste Boot im März nehmen, was fährt. Ich freue mich wahnsinnig dich wiederzusehen und hoffe, dich wohlbehalten aufzufinden. Ebenso freue ich mich sehr auf das neue Land und bin gespannt, wie es wohl in Amerika sein wird.
Ruby, ich wünsche dir beste Gesundheit und das du mir ja keine Dummheiten machst. Wir sehen uns im Frühjahr.
In Liebe,
Deine Tante Anne

Glücklich sehe ich auf den beschriebenen Bogen in meinen Händen. Tante Anne wird kommen. Sie wird tatsächlich zu Besuch kommen. Hastig springe ich auf, um das Pueblo zu verlassen. Gerade will ich raus, als das Leder zur Seite gerissen wird und ich unachtsam gegen Winnetou laufe. ,,Entschuldige. Ich habe nicht aufgepasst", entschuldigt er sich sofort. Schnell schüttel ich den Kopf und trete etwas nach hinten. Ich hätte vorsichtiger sein müssen. ,,Ist bei dir alles in Ordnung?" Zur Antwort reiche ich ihm den Brief, welchen er kurz überfliegt. ,,Es freut mich, dass es William gut geht. Und ebenso freue ich mich, deine Tante als unseren Gast bei den Apachen begrüßen zu dürfen." Lächelnd reicht er mir den Brief. ,,Klekih-Petra ist in seinem Pueblo." Schnell bedanke ich mich bei Winnetou und gehe endlich hinaus in die Kälte.

Sorgfältig reibe ich meine Schuhe, oder Mokkasins, wie Winnetou sie nennt, mit etwas Bisonfett ein, damit sie geschmeidig und wasserabweisend bleiben. Sowohl mit Klekih-Petra, als auch mit Häuptling Sakima ist alles geklärt. Da ein Brief von mir warscheinlich nicht rechtzeitig ankommen würde, reite ich nur mit jemandem nach Silvertown um Mr. Carter Bescheid zu geben. Somit kann er einigen Männer am Hafen anweisen, Tante Anne nach Silvertown zu begleiten. Dort werden Winnetou und ich sie dann abholen. Das Leder geht zur Seite und eigentlich habe ich mit Winnetou gerechnet. Umso erstaunter bin ich, dass nun Tohon dort steht und mit seiner üblichen finsteren Miene auf mich runter sieht. ,,Du bist ein Schandweib", fängt er an und obwohl er auf seiner Sprache spricht, verstehe ich ihn erstaunlich gut. Fragend sehe ich Tohon an. Ich habe nichts falsches getan, zumindest nichts, was mir bewusst ist. ,,Du schleppst die Bleichgesichter hier her. Was kommt als nächstes? Tötest du die Frauen? Entführst du die Männer und Kinder? Damit du uns als Sklaven halten kannst?", spuckt er mir entgegen. Irritiert sehe ich ihn an. Was habe ich ihm getan? Aggressiv zieht er mich an den Haaren hoch. Schmerzhaft verziehe ich das Gesicht, lasse es mir aber nicht entgehen, ihm trotzig in die Augen zu blicken. Wie gerne würde ich mich jetzt wehren können. Doch ich bin ihm sowohl sprachlich als auch körperlich unterlegen. ,,Dass Winnetou dich überhaupt noch hier dultet ist ein Wunder. Ich hätte dich am Pfahl sterben lassen, Bleichgesicht." Auch wenn ich es nicht möchte, mich mit aller Kraft dagegen wehre, schaffe ich es nicht die Tränen zu unterdrücken. Nicht einmal der Kapitän hat so mit mir geredet und die ganze Zeit frage ich mich, was ich ihm getan habe. ,,Tohon", ertönt die schneidende Stimme von Winnetou. Noch nie war ich so glücklich, seine Stimme zu hören. ,,Lass sie los", knurrt der Apache wütend. ,,Wieso nimmst du sie in Schutz? Sie ist ein Bleichgesicht", meint der Jüngeren und verstärkt seinen Griff in meinen Haaren. Leise zische ich auf. ,,Du tust ihr weh, Tohon." Mit einer kräftigen Bewegung schubst er mich nach hinten. Schmerhaft komme ich mit dem Rücken auf dem harten Boden auf. Einen Moment raubt der Aufprall mir den Atem, dann setze ich mich auf und sehe wieder zu den Brüdern. ,,Ich dachte, du bist ein Apache", meint Tohon und will rausgehen. Doch Winnetou versperrt ihm den Weg. ,,Entschuldige dich bei ihr." ,,Niemals entschuldige ich mich bei einem Bleichgesicht." In Tohons Stimme schwingt so viel Hass mit. ,,Vorher lasse ich dich nicht hier raus." Tohon sieht wieder finster zu mir, als wäre ich alles Schuld. ,,Die Bleichgesichter sind alle gleich. Sie töten, rauben und verbreiten Hass. Wieso sollte sie anders sein?" ,,Der Einzige, der Hass verbreitet bist du. Die Weißen stellen uns auch nicht mit den Comanchen gleich. Wir sind auch anders als unser Feindesstamm, obwohl wir gleiche Haut und gleiches Haar haben. Warum sollte es bei den Weißen anders sein? Es gibt Gute und Böse. Doch Ruby wird niemals böse sein, ihr Herz ist gut, im Vergleich zu deinem. Und nun, entschuldige dich, wie ein ehrlicher Mann unseres Stammes es tut." Winnetous Augen sind komplett dunkel vor Wut. Tohon baut sich vor seinem Bruder auf. ,,Ich entschuldige mich nicht bei Bleichgesichtern." Kräftig stößt er Winnetou zu Seite, welcher darauf nicht vorbereitet ist. Schneller, als ich gucken kann ist Tohon verschwunden. ,,Das Herz meines Bruders ist voller Hass. Ich werde umgehend meinem Vater mitteilen, was geschehen ist. Tohon wird mit seinem Verhalten nicht durchkommen." Der junge Apache lässt sich neben mir nieder und streicht mir vorsichtig die Haare wieder zurecht. ,,Hat er dich verletzt." Ich schüttel den Kopf. Zumindest körperlich nicht. Doch seine Worte haben mich hart getroffen. Auch wenn Winnetou darauf beharrt, dass Tohon nicht die Wahrheit sagt, zweifel ich. Was ist, wenn er recht hat? Was, wenn ich hier wirklich nicht erwünscht bin. Wenn ich einfach zurück nach Brighton gegangen wäre, vielleicht wäre dann alles besser geworden. Hemmungslos fange ich an zu schluchzen. Alles bricht aus mir heraus. Die Mauer, welche ich mir über Jahre hinweg aufgebaut habe, wurde zerstört. Immer wieder, von verschiedenen Leuten, doch Tohon hat gerade meine letzten Reste, meine Letzte Barriere aufgebraucht und zerstört. Wie immer hält Winnetou mich mit seinen starken Armen, lässt mich nicht los, auch nicht, als ich mich wieder beruhigt habe. Immer wieder atme ich seinen vertrauten Geruch ein, wiege mich durch seine Anwesenheit in Sicherheit. Höre seinem beruhigendem Herzschlag zu, welcher gleichmäßig durch seine Brust dringt. ,,Leg dich schlafen. Ich bleibe solange bei dir und werde dann meinem Vater erzählen was geschehen ist." Langsam löse ich mich aus Winnetous Griff und lege mich auf mein eigenes Leder. Wie versprochen bleibt der Apache bei mir, gibt mir solange Sicherheit, bis ich endlich einschlafe.

Stolen from Britain, brought to AmericaWhere stories live. Discover now