E L F | Gewinne und Verluste

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Stocksteif saß ich auf dem Sofa und versuchte angestrengt mich davon abzuhalten den Kopf zu recken, um über die schmale Theke, die ebenso in meiner Wohnung vorhanden war, schauen zu können. Denn trotz der kurzen Entfernung verstand ich kein Wort, das aus dem Küchenbereich zu mir rüber dringen könnte. Stattdessen beobachtete ich Viktor dabei, wie er die Karten irgendeines Spiels angestrengt sortierte. Kaum hatte ich mich auf das Sofa gesetzt gehabt, da hatte er es bereits aus einem Schrank gezogen. Das Bild erinnerte mich stark an Samstag, als er in meiner Küche die Karte für Noah gestaltete hatte. Auch jetzt hatte er die Zunge zwischen die Lippen gezogen und die Stirn in Falten gelegt. Er saß in der Ecke der Couch auf dem Teppich und schien sich nicht den geringsten Gedanken um das zu machen, was gerade in der Küche passiert war. Ganz im Gegensatz zu mir, denn mein Kopf konnte nicht aufhören zu rattern. Ich fragte mich, warum Emma so kopflos handelte, wenn sie doch offensichtlich genauso wie Noah, Nik und vermutlich auch Oskar wussten, dass es ihr nicht gut tat.

Nach ein paar weiteren Minuten des Schweigens, in denen immer noch nicht ein Ton zu mir herüberdrang, kam Noah gefolgt von Oskar in den Wohnbereich. Er trug, wie auch sein Freund einen Teller mit Kuchen. Rasch räumte Viktor die Spielkarten und den Karton auf die untere Tischplatte, auf der ansonsten nur ein paar Zeitschriften lagen, und ließ sich in die Ecke des Sofas unmittelbar vor dem Tisch plumpsen. „Was möchtest du, Linnea? Schoko oder Zitrone?", fragte mich Noah immer noch mit zwei Tellern in seinen Händen. Da ich bereits vorher mitbekommen hatte, dass in dem Schokoladenkuchen auch Himbeeren waren, entschieden ich mich gezwungenermaßen für den Zitronenkuchen. Während ich mich nicht von der Stelle rührte und weiterhin auf dem kurzen Ende der Couch saß, lies sich Oskar neben Viktor auf der langen Seite in die Kissen fallen. Nachdem Noah sich noch zwei Gabeln vom Tisch geschnappt hatte, lies er sich neben mir nieder und reichte mir Teller und Besteck. Er selber fing ohne ein weiteres Wort an den Schokoladenkuchen zu essen.

Ab und an glitt mein Blick zu Noah, während ich mir den Zitronenkuchen schmecken ließ. Er schien ich in der Küche ein paar durch die Haare gefahren zu sein, da sich ein paar weitere seiner lockigen Strähnen aus der Frisur gelöst. Sie hingen ihm jetzt locker in die Stirn. Lächelnd sah ich ihn an, als er lachte und ich leichte Grübchen in seine Wangen unterhalb der Wangenknochen grubben. Ich bekam nicht mit, worüber geredet wurde und bleib deshalb auch die ganze Zeit still.

Ich erwachte erst aus meiner Starre, in die ich in Noahs Anwesenheit leider häufiger fiel, als sich Nik und Emma händchenhaltend und mit einem Stück Kuchen auf einem Teller zu uns gesellten. Sie setzten sich neben Oskar und Emma begann ebenso den Kuchen zu essen, gab nur beriets nach wenigen Gabeln auf und rechte den Teller an Nik weiter, der erneut den besorgten Blick aufgesetzt hatte. Wobei genau genommen hatte er ihn nie abgelegt.

Kaum hatte Viktor den Kuchen, natürlich war er der erste, der fertig war, aufgegessen, spornte er uns an schneller zu essen. Auch Noahs Angebot von noch einem Stück schlug er aus, weshalb ich mein Bestes gab, um nicht mehr Noah anzusehen und somit stattdessen konzentriert zu essen. Noah und Oskar ließen sich jedoch Zeit, die Nik aufgrund der kleineren Menge nicht benötigte.

„Lass mich den Teller wegbringen", schlug Emma mit kleinlicher und definitiv nicht mehr so selbstsicherer Stimme vor. Nik jedoch schien das reichlich wenig zu interessieren, denn er schnappte sich wortlos Viktor und seinen Teller und lief davon. Einen Augenblick später folgte Noah dem geladenen Mann.

„Kannst du dich bitte zusammenreißen, Mann?", drang zu mir hinüber, Noah musste lauter sprechen als vorhin ansonsten hätte ich ihn nicht verstanden. Danach senkte er jedoch seine Stimme und es drangen nur noch einzelne Wörter, die keinerlei Zusammenhang ergaben zu mir. Einzig das Wort sterben ließ mich aufhorchen und hoffen, dass ich mich entweder verhört oder nur das nicht nicht gehört hatte. Zwar war die Wahrscheinlichkeit, dass ich die Person kennen würde, relativ gering, jedoch wollte ich Ärztin werden, um Menschen vor diesem zu bewahren- zumindest, wenn sie es wollten.

Während Emma mit einem Lächeln auf Viktor schaute und abwesend mit einer Strähne ihrer kurzen, blonden Haare spielte, räumte Viktor vor sich hinredend die Spielkarten wieder auf den Tisch. Er verteilte die Karten, die ich nun als UNO identifizieren konnte, für uns vier und zählte dabei mehr oder weniger leise mit. Freudestrahlend drehte er sich zu Emma um und sagte, dass er fertig sei. Lächelnd strich sie einmal durch seine Haare und er ergriff schnell ihre Hand, um sie aufzuhalten. Anscheinend mochte er das bei niemandem so richtig.

Unsicher sah ich zu Oskar auf, der mich anstarrte, als ich die Karten aufnahm und sortierte. Glücklicherweise musste mir niemand mehr die Spielregeln erklären, da ich das Spiel bereits aus meiner Kindheit kannte und somit vermutlich nur ein paar Spielzüge brauchen würde, um wieder vollständig drin sein zu können.

Immer noch spürte ich Oskars stechenden Blick auf mir, indes auch er seine Karten aufnahm. Ich verstand nicht, wieso er mich gefühlt die ganze Zeit beobachtete. Es war mir unangenehm und machte mich noch unsicherer als sowieso schon. Er hatte komplett anders gewirkt als ich ihn in der Küche erblickt hatte- offen für alles und jeden und gewissermaßen auch einzigartig. Doch jetzt kam ich mir ausgeschlossen und nicht gemocht von ihm vor.

Während Runde um Runde verstrich und ich immer sicherer wurde, taute Oskar und somit auch ich in Folge ein wenig auf. Von Noah und Nik war nichts mehr zu hören und ich hatte gemeint vorhin die Wohnungstür zuschlagen gehört zu haben. Emma und Viktor wechselten sich mit lustigen Erzählungen ab, sodass Oskar und ich immer wieder in Lachen ausbrachen- teilweise konnten wir uns nicht einmal von den vergangenen Lachslaven ausruhen, wenn die nächste losging. Während Emma eher von lustige Momenten erzählte, wie zum Beispiel als sie mit Nik als Teenager auf einer Freizeit gewesen war und die beiden beim Rumknutschen von einem der jüngeren Teilnehmer erwischt wurden und dieser wohl laut geschrien habe: „Keine Kinder machen!", hielt sich Viktor eher an Flachwitze, von denen er wohlgemerkt ein riesiges Repertoire hatte. Obwohl manche nicht lustig waren oder keinen Sinn ergaben, rollten wir uns trotzdem immer wieder für ihn ab.

Als Oskar dran war und stattdessen aber gerade auf sein Handy starrte und ein paar Mal hintereinander schnell blinzelte, vermutlich um das Gelesene zu realisieren, rief Vik: „Guus!" und wedelte dabei mit einer Hand, wobei er mir mit der anderen-zum wiederholten Male-seine Karten zweigte, vor seinem Gesicht herum. Ohne zu denken, geschweige denn mir bewusst zu machen, was ich tat, sprach ich Oskar, das erste Mal so richtig an: „Woher kommt eigentlich der Spitzname?"

Vor Schock, als ich meine Stimme hörte, war ich kurz davor mir die Hand vor den Mund zu schlagen, schaffte es jedoch noch mich zusammen zu reißen. Als wäre er ebenso erschrocken wie ich, hob Oskar seinen Kopf und erklärte mir beinah emotionslos und mit einem Schulterzucken: „Mein Zweitname ist Gustav und irgendwie fand Noah es früher lustig mich so zu nennen. Hat sich halt eingebürgert."

Nickend fragte ich mich fast augenblicklich, warum nur Noah ihn so nannte. Nach ersten Vermutungen, war es für mich am logischsten, dass sie erst später Nik und Emma kennenlernten. Ich versuchte mich davon abzuhalten zu viel über Dinge, die mich eigentlich nichts angingen, nachzudenken und legte die nächsten Karten ab.

Als ich das nächste Mal, gleich nachdem ich das erste Mal am heutigen Tag UNO rufen konnte, auf meine Uhr sah, war es bereits siebzehn Uhr und nun fing ich doch an mir Sorgen um Noah zu machen. Ich hatte zwar keine Ahnung, wann sie gegangen waren, aber es kam mir wie eine unglaublich lange Zeitspanne vor. Zugegeben er war alt genug und ich war vermutlich die letzte, die es angehen würde, wenn ihm etwas passieren würde, aber- und das war ich mir bewusst geworden- ich mochte ihn- wahrscheinlich mehr als für mich oder die kurze Zeitspanne, die wir uns erst kannten, gut war.

Leider verkündete Emma: „So, meine Lieben, ich glaube ich verdrücke mich mal. Bis Nik wieder da ist dauert es vermutlich noch was, aber ich kann nicht mehr." „Oki, Emmi", verabschiedete sich Viktor von ihr und als sie aufgestanden war, rannte er auf sie zu und umarmte ihre Beine so fest, dass seine Ellbogen weiß hervortraten. Vermutlich war das nicht wirklich fest, da er zum einen ziemlich klein und zum anderen ziemlich jung war. Es wäre eine große Überraschung, wenn er da große Kraft aufwenden könnte. Sie strich ihm einmal durchs Haar und setzte nachdem sie sich zu ihm runtergebeugt hatte einen Kuss auf seine Stirn. Auch Oskar umarmte sie einmal, flüsterte ihr etwas ins Ohr, das ich nicht verstehen konnte und auch nicht wollte, und küsste sie dann auf die Wange. Zuletzt kam Emma auf mich zu und drückte mich sofort an sie. Noch leicht überfordert, da ich mich noch nicht an ihre überschnellen Reaktionen und Aktionen gewöhnt hatte, legte ich meine Arme ebenso um sie.

„Er mag dich", flüsterte sie in mein Ohr und ließ mich augenblicklich los. Ich konnte nicht nachhaken, wen sie meinte oder wie sie das gesprochene meinte. Schon wandte sie sich zum Gehen und nach einem allgemeinen „Tschüss" und einem Winken war sie im Flur verschwunden und wenige Sekunden später hörten wir die Tür zuschlagen.

„Können wir weiterspielen?", fragte Viktor nach ein paar Minuten des Schweigens. „Hey, Kumpel, sorry aber ich denke wir haben für heute genug UNO gespielt", meinte Oskar und weil ich nicht wollte, dass er enttäuscht wurde oder sich langweilen würde, weil sein Vater immer noch nicht wieder da war, widersprach ich Oskar mit fester Stimme: „Ach, wieso? Ich will nochmal gewinnen."

Oskar zog eine Augenbraue hoch und auch Viktor gab verspätet eine Reaktion ab, nämlich dass er die Arme vor der Brust verschränkte und laut ein langgezogenes „Nein!" rief. Just in dem Moment öffnete sich die Wohnungstür und ein Schwall kühler Luft striff mich wenige Zeit später, als Noah an mir vorbei zu Viktor lief- anscheinend war er draußen gewesen. Ebenso nahm ich den widerlichen Geruch von Zigarettenrauch wahr und rümpfte sofort die Nase.

„Viktor! Was ist hier schon wieder los?", hinterfragte Noah das Geschrei seines Sohnes. „Nix", sagte er schnell und scheinheilig lächelte er zu seinem Vater hinauf. „Fichu! Du weißt, dass du noch einen Haufen Aufgaben vor dir hast, die du machen musst. Also sag die Wahrheit wieso du hier so rumschreist oder du musst in dein Zimmer gehen", wurde Viktor erpresst.

„Man, du bist doof!", bockte er. „Ne ich bin dein Erziehungsberechtigter. Ich darf das und das weißt du. Insbesondere nach Freitag darf ich das- mein Geburtstag hin und her", sprach Noah gelangweilt und mit einem leicht aggressiven Unterton. Vermutlich hatte er die Diskussion schon ein paar Mal häufiger geführt.
„Linnea meint sie gewinnt bi der nächsten Runde wieder", er hatte wieder die Arme verschränkt und die Worte trotzig ausgespuckt.

Augenblicklich ermahnte Noah seinen Sohn: „Das ist definitiv kein Grund hier so rum zu schreien! Denk mal an deine Mitmenschen, Viktor."
Viktor verdrehte die Augen, jedoch drehte er den Kopf dabei zu mir, sodass Noah das nicht sah. Das war auf jeden Fall besser, da auf Noah anscheinend ein wenig von Niks Ladung abgefärbt hatte.

„Ähm ich denke ich werde jetzt gehen", schob ich mich dazwischen, da ich zum einen hoffte somit die Situation ein wenig zu entschärfen und zum anderen die Runde sich eh schon verkleinert hatte- ich war nicht allzu sehr mit ihnen verbunden, als dass ich der letzte Gast sein sollte.

„Ich denke ich gehe dann auch mal", meinte Oskar und erhob sich. „War echt nice mit dir, Bro", er verabschiedete sich mit einem Handschlag von dem leicht überrumpelten Noah. So hatte er sich einen Geburtstag bestimmt nicht vorgestellt.

„Tschau, Kumpel." Oskar hielt Viktor eine Hand hin, damit dieser zum High Five einschlug. Lachend erfüllte er diese eindeutige Aufforderung und dann schritt plötzlich Noah ein: „Ihr wollt echt schon gehen? Bleibt doch noch ein bisschen", schlug er vor. Lächelnd verneinte ich, da ich trotz seines umwerfenden Lächelns und dem verlockenden Angebot nicht fand, dass es gut oder gar richtig war noch zu bleiben.

Da auch Oskar das Angebot abschlug, umarmte ich schnell Noah einmal zum Abschied, auch damit es nicht so innig wie beim letzten Mal werden würde, und wir gingen zur Tür.

Winkend standen die beiden Frankes in der Tür als Oskar und ich die Treppen hinuntergingen und uns noch einmal umdrehten. Nach einem weiteren Absatz, wandte ich mich zu meiner Wohnungstür und sagte ihm auf Wiedersehen: „Na dann, bis irgendwann mal." Das war ernst gemeint und dennoch antwortete Oskar mit einem Satz, der das Gefühl, dass er und ich einigermaßen miteinander klarkamen, komplett verschwinden ließ und stattdessen ein Unwohlsein und in gewisser Weise auch eine Eiseskälte in meinem Körper verbreiteten: „Steck deine Nase nicht in Sachen, die dich nichts angehen." Danach wandte er sich ohne ein weiteres Wort wieder der Treppe zu und verschwand. 

Entschuldigt die Verspätung! Wollte eben noch ein Stück meines Geburtstagskuchens essen :)
Und herzlich Wiiiillkommmmenn zur Lesenacht *-* Ich freue mich riesig und hoffe, dass ich den letzten Teil in der Zeit noch fertig kriege:/

fleur de cerisier //Where stories live. Discover now