A C H T | Fehlentscheidung?

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Winkend sah ich Nevs Auto dabei zu, wie es erst die Parkbucht verließ und dann langsam die Straße hinunter tuckerte. Als der blaue VW Polo nicht mehr zu sehen war, schloss ich die Haustür und lief langsam die Treppe zu meiner Wohnung hinauf. Den Muskelkater verspürte ich kaum noch, weshalb ich endlich auf den Fahrstuhl verzichten konnte.

Nachdem ich erneut in meiner Wohnung angekommen war, lief ich zunächst in mein Schlafzimmer, um mir eine bequeme Jogginghose und ein weites, luftiges Shirt anzuziehen. Ungern wollte ich weitere Kisten in einer Skinny-Jeans und einem übergroßen Pullover auspacken.

Als ich jedoch im Wohnbereich war und die immer joch auf dem Tisch verteilten Fotos, Postkarten und jeglichen anderen analogen Erinnerungen sah, entschied ich mich spontan dazu diese zuerst an die Wand zu bringen. Obwohl ich gerade eigentlich ziemlich motiviert war zumindest ein paar Sachen weiter einzurichten, schaltete ich Musik an.
Während der ruhigen, melancholischen Takte der Musik fing ich an die Sachen vor der Wand auf dem Boden zu ordnen. Immer und immer wieder legte ich Karten um und als ich am Ende relativ zufrieden war, fehlte mir dennoch etwas. Ohne zu wissen was, begann ich erneut alles umzuordnen. Im Endeffekt wusste ich nicht mehr, ob es mein Gespräch mit Nev, das nächste melancholische Lied oder meine verwirrten Gedanken waren, die mich dazu brachten die Kisten in der Wohnung nach der einen zu durchsuchen, in der die Box mit den Erinnerungen an Lucas und meine Zeit waren.

Vollkommen überzeugt sortierte ich schließlich erst ein Bild von mir in seinen Armen, von der Zeit als wir nur Freunde waren, und das Selfie von ihm und mir auf dem zweiten Date, ein. Ich erinnerte ich schlagartig an den Tag. Ich musste lächeln als ich an den nervösen jungen Mann dachte, dem damals vor Angst vor meinem Vater wortwörtlich die Knie geschlottert hatten. Im Endeffekt war diese Nervosität vollkommen unbegründet, denn schließlich kannten meine Eltern ihn ja bereits und dass er mit mir auf ein Picknick ging, war auch kein allzu großes Risiko.

Endlich zufrieden holte ich die Rolle Washi-Tape aus der Schublade in der Küche und fing an, während ich die Hüfte im Takt zu der nun poppigeren Musik schwang, die blass beige Wand mit den vorsortierten Erinnerungen zu überdecken.
Lied für Lied endetet und als ich schlussendlich zurücktrat, war ich zufrieden mit der Gestaltung. Zwischen all den bunten oder schwarz-weißen Bildern blitze immer mal wieder ein streifen der beigen Farbe auf und gab dem Ganzen den gewollten Touch, das gewisse Etwas.
Lächelnd angelte ich mein Handy vom obersten Brett der schmalen Garderobe, kurz unwissend wie es darauf gelangt war, schoss ein paar Bieder und schickte das beste jeweils an Nev und Lennard, sowie meinen Eltern mit der Unterschrift: Sie ist wieder da! Da ich bereits seit ich mit 15 Jahren angefangen hatte Erinnerungen zu sammeln, eine solche Wand in meinem Zimmer hatte.

Mit einem letzten Blick auf die Wand, stopfte ich das Handy in die viel zu große Bauchtasche des ebenso übergroßen Pullis und schnappe mir die Kiste für mein Arbeitszimmer.
Als ich die Kiste durch den Türrahmen trug, war ich erneut überglücklich, dass ich nicht nur Unisachen in die Kisten getan hatte, sondern sie stattdessen zur Hälfte mit Kissen und andere leichte Sachen befüllt hatte.

Schon extrem routiniert räumte ich in der Zeit, in der ich der nun leiseren aber dennoch vernehmbaren Musik aus der Küche zuhörte, die Kiste aus.
Während ich ohne jeglichen Spaß eine weitere Kiste ausräumte, vermisste ich Noah. Schnell korrigierte ich meinen Gedanken jedoch. Ich vermisste den Spaß, den wir dabei hatten Kisten auszuräumen. Schmunzelnd über die Verfolgungsjagd wegen des BHs und über die durchaus interessanten Gespräche, überlegte ich sogar kurz, ob ich nicht hochgehen und ihn erneut um Hilfe bitten sollte. Schnell verwarf ich den Gedanken jedoch wieder, da es mir erstens viel zu peinlich gewesen wäre und zweitens mit Sicherheit nicht hilfreich dabei mir über die eventuelle Verknalltheit klar zu werden. Immer noch schwirrte mir dieses Horrorszenario im Kopf herum, in dem ich heidlos verliebt in ihn mein Studium links liegen ließ, nur um dann zu erfahren, dass all meine Bemühungen um seine Aufmerksamkeit umsonst gewesen waren, weil er eine wundervolle Freundin hatte.

Ich beschloss zwischen dem Einräumen des Anatomie I Ordner und des Anatomie III Ordners, dass ich zu allererst herausfinden musste, ob er vergeben war oder nicht. Denn egal wie verleibt ich sein könnte, niemals wäre ich in der Lage mich in eine Beziehung oder gar eine Ehe zu quetschen ganz zu schweigen von Viktor, den ich jetzt schon viel zu ehr mochte, als dass ich ihn verletzten wollte oder seine momentan intakt wirkende Familie zu zerstören.

Kurz bereute ich es, Nev quasi verboten zu haben mir zu helfen. Es wäre doch um einiges lustiger zu zweit. Da ich jedoch weder Nev ihre anscheinend sparsame Zeit mit Erasmus nehmen wollte, noch sie erneut den Weg fahren lassen wollte, versuchte ich mit einem Lächeln auf den Lippen weiter auszupacken.
Dass das nicht lange hielt war kein Wunder, ebenso wenig wie, dass meine eh schon spärliche Motivation noch mehr verschwand. Obwohl ich also weder Laune noch Lust hatte sortierte ich weiter. Ich wollte fertig werden und dafür musste ich es halt durchziehen. Ansonsten würden die Kisten noch in Jahrtausenden hier rumstehen.

Immer mehr Ordner mit meinen Mitscheiben, den Ausdrucken der PowerPoint Präsentationen oder meinen nachgearbeiteten Sachen fanden ihren Platz in dem Regal neben dem Fenster oder in den Fächern unter der Holzplatte, die meinen langen Schreibtisch darstellte. Die Kissen landeten entweder auf der Schlafcouch oder im Schlafzimmer auf dem Bett.

Als schließlich die Sonne immer mehr verschwand und die gesamte Westseite der Wohnung in sanftes Orange hüllt, kuschelte ich mich auf Couch neben dem großen Fenster zusammen und ließ mir die Ausläufe der Herbstsonne auf die Haut scheinen.
Genießerisch schloss ich meine Augen, atmete ein paar Mal tief ein und aus und es schien als würde die gesamte Anspannung von mir abfallen.
Ich ließ mir die untergehende Sonne noch ein paar weitere Sekunden auf meine leicht gebräunte Haut scheinen. Als diese jedoch beinahe vollkommen durch die bläuliche klare Sternennacht ersetzt worden war, entschied ich mich dazu mir etwas zu Abendessen zu machen.

Nach einigen Minuten des Überlegens, fiel die Wahl auf einen Salat mit Hähnchenbruststreifen, obwohl das eigentlich ein Sommeressen war. Ich fühlte mich momentan einfach sommerlich.
Ich freute mich darauf das erste Mal in meiner Küche zu ‚kochen', auch wenn ich liebend gern auf das Aufräumen danach verzichtet hätte. Mir war bewusste, dass ich mit dem Essen einen meiner drei Fleischtage in der Woche verbrauchte. Ich hatte mir nämlich fest vorgenommen, sobald ich alleine leben würde, auf meinen Fleischkonsum zu achten und ihn auch zu reduzieren.

Während ich meinen Salat aß, scrollte ich auf dem Handy durch meinen Stundenplan, den mir die Uni bereits vor Wochen per Mail zugeschickt hatte. Ich mochte den Montag jetzt schon nicht. Um acht Uhr für Urologie antanzen und dann um 13.00 Pharmakologie zu haben war schrecklich, obwohl die Professoren eigentlich voll okay waren. Aber in gewisser Weise hatte ich in den letzten Jahren eine Rat Abneigung gegen die Arzneilehre entwickelt. Ich war schon seit ich ein kleines Kind war kein Fan von Medizin oder gar Tabletten, aber der Wahn, der sich immer mehr verstärkte, bei dem kleinsten Pochen im Kopf Tabletten zu verlangen war extremst gestiegen. Dafür verschwendeten Ärzte ihre Zeit und die Menschen, die wirklich Hilfe brauchten, waren hintenangestellt.
Missmutig stocherte ich in den letzten Blattern des Salates herum und bereute es an ein Handy gegangen zu sein. Ich wollte endlich fertig werden mit der Uni und Ärztin sein. Ich hoffte darauf, dann endlich richtig den Menschen helfen zu können und nicht, wie ich es momentan als Praktikantin tat, ab und an mal einen Gips abnehmen oder eine Spritze spritzen.
Klar, das war auch wichtig, aber ich zielte auf bedeutendere Hilfe.

Als mein Handy in meiner Hand vibrierte und ich die Nachricht der unbekannten Nummer las, zog sich mein Magen auf komische Art zusammen und ich vergaß vollkommen mich über die Uni oder unnütze Praktikantenarbeit aufzuregen.
Erneut huschten meine Augen über den Text und ich begriff, dass es wirklich dort stand. Mein Herz setzte einen kurzen Moment aus nur um dann in doppelt so schnellem Tempo weiter zu rasen.
Hey Linnea,
hier ist Noah. Ich wollte dich fragen, ob du morgen hoch kommen wollen würdest.
Nur der Nachsatz stoppte meine Euphorie ein wenig, aber nicht genug um mein Herz wieder zu entschleunigen.
Viktor würde sich echt freuen, wenn du kommen würdest.

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Wie gefällt es euch?
Soll sie gehen, oder nicht?
Denkt ihr es war eine Fehlentscheidung Lucas Bilder aufzuhängen?
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fleur de cerisier //Where stories live. Discover now