Z W E I | Erste Verletzte

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„Hi, wir sind deine neuen Nachbarn", sagte er mit einem breiten Lächeln, bei dem er mir seine geraden, schneeweißen Zähne zeigte.

„Ähm ja hi", erwiderte ich, während ich die Arme vor der Brust verschränkte und mich an den Türrahmen anlehnte.

„Also das ist Viktor", er zeigte auf den kleinen Jungen neben sich, „und ich bin Noah." Viktor winkte mir einmal, versteckte sich jedoch ein wenig hinter Noahs Bein und krallte sich mit seinen Fingern in dessen Jeans fest. Ich ging in die Knie und löste meine Arme aus der abweisenden, desinteressierten Haltung.

„Hallo Viktor, ich bin Linnea." Ich streckte ihm meine Hand hin, die er jedoch geflissentlich ignorierte und sich stattdessen sogar noch weiter hinter Noahs Beinen versteckte.

„Mach dir nichts draus. Zu Fremden ist er eigentlich immer so schüchtern."

Ich nickte und stand wieder auf. Jetzt wirkte der junge Mann anders. Nicht mehr so egoistisch und rücksichtslos, wie vor einigen Stunden. Im Gegenteil, er benahm sich freundlich, höflich und vor allem verantwortungsbewusst. Auch ihm hielt ich meine Hand hin und er umschloss diese nahezu sofort mit seinen langen, weichen Fingern und schüttelte die meinigen leicht.

So wie sich Viktor noch immer an Noah klammerte, mussten sie verwandt sein. Es wirkte, als wäre Noah seine Bezugsperson. Ein großer Bruder kam meist nicht an eine solche Wirkung heran, das hatte ich bei den unterschiedlichsten Patienten auf der Arbeit gelernt. Außerdem wirkten sie viel mehr, wie ein eingespieltes Team aus Vater und Sohn.

„Ich wollte mich nochmal wegen heute Vormittag entschuldigen. Das ist eigentlich gar nicht meine Art", riss er mich aus meinen Gedanken.

„Schon okay. Jeder kann ja mal einen schlechten Tag haben."

„Ich wollte dir als Entschädigung beim Auspacken helfen, also wenn du willst", bat er mir unsicher an.

„Das ist zwar echt nett, aber eigentlich wollte ich das alleine machen", begann ich sein Angebot abzulehnen. Was mir bei meiner Familie so leicht fiel, gestaltete sich bei ihm echt schwer.

„Ein bisschen Hilfe kann doch nicht schaden", versuchte er mich weiterhin zu überzeugen. Er schien sich echt schuldig zu fühlen und als er weiter argumentierte, konnte ich nicht mehr nein sagen. Er war mir sympathisch. „Komm schon. Was ist schon dabei, wenn wir dir helfen, dich hier einzugewöhnen?"

„Dass ich euch nicht kenne zählt nicht als Grund, oder?", fragte ich ein wenig humorvoll, da ich mich im Inneren bereits entschieden hatte.

„Non, das kann man nämlich ändern." Ich wunderte mich nicht wirklich über die Verwendung fremdsprachiger Wörter, da ich es von meiner besten Freundin gewohnt war, dass sie ab und zu in ihre Muttersprache rutschte, die sie jahrelang diese täglich nutzen musste.

„Okay, okay. Ihr könnt helfen." Ich deutete ihnen durch die Tür zu gehen und erstaunlicherweise löste sich Viktor von Noah und lief voran.

Als Noah ebenfalls an mir vorbei in die Wohnung ging, nahm ich seinen wohltuenden holzigen und moschusartigen Geruch wahr.

„Bitte erschreckt euch nicht, wenn ihr die ganzen Kisten seht", rief ich in den Flur.

Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, folgte ich Noah und betrachtete ihn. Er war ein paar Zentimeter größer als ich und sein Haar war so dunkelbraun, dass ich es schon als schwarz bezeichnen würde, obwohl das biologisch und vor allem physikalisch gesehen komplett unmöglich war. Der grobe, dunkelblaue Strickpulli schmiegte sich an seine Schultern und fiel danach locker über seinen Rücken. Der Eindruck einer versuchsweise schmalen Hüfte wurde von der eng geschnittenen Jeans bestätigt und ließ sogleich die Frage zurück, wie jemand so breite Schultern und dennoch eine solch schmale Hüften und Beine haben konnte. Als er sich umdrehte und mich fragte mich, wo er lang müsse, unterbrach er meine vermutlich nicht sehr unauffällige Beobachtungen.

fleur de cerisier //Tahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon