P I Ę T N A Ś C I E

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„Bleibst du jetzt den ganzen Abend über so schlecht gelaunt?", will ich wissen, nachdem Vincent zu meinem Haus gefahren ist und nun an dem Straßenrand steht. „Hey, du kannst ruhig mit mir reden, schließlich habe ich dir nichts getan."

Während wir Richtung Süden gefahren sind, hat mein Kollege kein einziges Wort zustande gebracht. Der Frust hat ihn förmlich zerfressen, denn es ist ab und zu vorgekommen, dass er ein leises Knurren von sich gegeben hat. Als Reaktion habe ich ihm einen verwirrten Blick zugeworfen. Vincent hat davon Notiz genommen, aber nichts gesagt. Es ist mir vorgekommen, als würde er mich mit voller Absicht ignorieren.

„Wir hören uns morgen wieder", quittiert der Blonde meine Frage und schaut mich nicht an. Ich knirsche mit den Zähnen und stoße mich von der Beifahrertür ab. Vincent betätigt einen Knopf, um das Fenster hochzukurbeln. Ich verdrehe die Augen und wende mich vollständig von ihm ab.

„Gut, wenn du meinst, es auf diese Tour abziehen zu müssen." Vincents Ärger hat sich auf mich abgefärbt, ohne dass ich es gewollt habe. Ich forme die rechte Hand zu einer Faust und mache mich auf dem Weg zu der Haustür. Hinter mir quietschen die Reifen über den Asphalt, und der schwarze Audi jagt über die Straße. Ich sehe ihm nicht nach, gehe still weiter. Die Neugier brennt immer noch wie ein loderndes Feuer in mir. Ich will zu gerne erfahren wollen, was mit Vincent passiert ist. „Ich habe sogar eine kleine Vermutung, denn seine Art gleicht sich irgendwie mit Cessys, nachdem ich sie sitzen gelassen habe."

Ich hole die Hausschlüssel hervor und nestele an dem Schloss herum. Die kleine Lampe, die Zoë und ich gemeinsam neben der schlichten Tür angebracht haben, ist im Laufe der Zeit kaputtgegangen. Der Bewegungssensor hat den Geist aufgegeben, und dies erschwert jedes Mal aufs Neue den Versuch, den Schlüssel in das Schloss zu stecken.

„Jetzt komm' schon", murre ich, ehe der Schlüssel in das Schloss gleitet. Ein sanftes Knirschen füllt meine Ohren aus, als ich den Schlüssel umdrehe und endlich in den von Dunkelheit überfluteten Flur trete. Ich drücke die Tür mit dem linken Ellenbogen zu und lege die Schlüssel auf ein schmales Regal.

„Zoë? Bist du noch wach?" Ich schlüpfe aus den Schuhen, platziere meine wenigen Habseligkeiten beiseite und schleiche durch den Flur. Das Wohnzimmer strahlt ebenfalls kein Licht aus, alles liegt in der Dunkelheit. „Hmm, anscheinend bist du es nicht." Ich entferne den Blick von dem Wohnzimmer und nähere mich der Treppe.

Eine kühle Decke legt sich um mich, und mein Körper reguliert augenblicklich die Temperatur, mit die er sich herumgeschlagen hat. Ein entspannter Seufzer weicht von meinen Lippen. Die Fingerkuppen fahren über die glatte Oberfläche des Geländers hinweg, als ich die Treppe hochgehe. Das vertraute Knarzen kann ich mit jedem Schritt vernehmen.

„Wie spät ist es eigentlich? Wirklich, ich habe jegliches Zeitgefühl verloren." Ich halte mitten auf der Treppe inne, lasse die freie Hand in die Hosentasche gleiten, um das Handy an mich zu nehmen. Ein flüchtiger Blick genügt, um die Zeit erhaschen zu können. „Ach du Scheiße, bitte was? Kurz vor elf? Verdammt, wie lange war ich denn weg?" Ich blinzele überrascht und behalte das Handy umschlossen, bringe die letzten Stufen hinter mir. „Das muss ja eine gefühlte Ewigkeit gewesen sein."

Das Lokal raubt einen nicht nur den freien Willen, auch jegliches Zeitgefühl. Man wird in den hypnotischen Bann der Tänzerinnen gezogen und realisiert nicht, wie man Minute für Minute gehorsam nach ihren Regeln spielt. Sie machen die Besucher willenlos, nehmen ihnen die Möglichkeit, klare Gedanken ergreifen zu können.

Ich sehe auf meine Füße, als etwas in mein Bewusstsein dringt. Cessy hat mich zum Teil von meinem eigenen Willen gelöst, ohne dass ich es gemerkt habe. Als sie vor mir gestanden hat, ihren anmutigen Körper zur Schau gestellt hat, da hat sie mich von meinem Willen gelöst. Ich habe dort wie gelähmt gesessen, bin unfähig gewesen, klar zu denken. Mein gesamter Körper hat sich nach ihr gerichtet.

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