6. Kapitel Elle

9 0 0
                                    

Isabelle stellt die Milchpackung in den Korb und wirft einen Blick auf ihren Einkaufszettel. Eine blonde Haarsträhne fällt ihr ins Gesicht und sie streicht sie sich gedankenversunken zurück. "Ich glaube, wir haben alles" meint sie. "Isabelle, hat Papa mal mit dir geredet bevor wir nach London gezogen sind? Ich meine, hat er dir erzählt, warum er unbedingt hierher wollte?" stelle ich die Frage, die mir schon so lange auf der Seele liegt. Isabelle schaut auf und sieht mich kurz überrascht an. "Hat er dir denn nichts gesagt?" Das verwirrt mich dann doch etwas. "Was soll er mir denn gesagt haben?" hake ich verwundert nach und sehe wie Isabelle unsicher den Blick abwendet. "Isabelle, wenn du etwas weißt, musst du es mir sagen". Sie lächelt, doch ich kenne meine Tante gut genug, um zu wissen, dass dieses Lächeln nicht echt ist. Sie verbirgt etwas vor mir. "Ehrlich, wenn ich etwas wüsste, würde ich es dir doch sagen, aber dein Papa hat mir nichts erzählt".
Ich sehe sie ungläubig an. "Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht stimmt" sage ich. Isabelle zögert und kurz sieht sie traurig aus. "Dein Papa möchte, dass du so viel Zeit wie möglich mit Großmama verbringen kannst". Sie packt die Sachen, die in ihrem Korb liegen, auf die Kasse und wendet sich dann wieder mir zu.
"Elle, ich weiß, dass du anfangs böse auf deinen Papa warst, weil er dir nichts gesagt hat, aber das alles war auch für ihn nicht leicht". Und wieso schleift er mich dann nach London?
Langsam blicke ich nicht mehr durch. Ihn hat es doch vorher nie interessiert, ob ich viel Zeit mit Oma verbringe. Warum plötzlich jetzt auf einmal?
"Was hältst du davon, wenn wir gleich noch in den Buchladen gehen?" wechselt Isabelle das Thema. Ich lächle leicht, trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass Isabelle mir nur die halbe Wahrheit sagt. "Klar" stimme ich zu. Vielleicht sollte ich aufhören zu viel darüber nachzudenken. Meine Tante hat mich noch nie angelogen. Wieso sollte sie das also jetzt tun?
Als wir den kleinen Buchladen von Louisa betreten, schlägt mir sofort der Duft von Earl Grey Tee in die Nase.
Ich war wirklich lange nicht mehr hier und doch fühlt es sich an, als wäre es erst gestern gewesen. "Ich bin sofort da" ruft Louisa und taucht dann hinter einem Regal auf. Ihre Augen fangen an zu strahlen, als sie uns sieht. "Elle, wie lange wir uns nicht mehr gesehen haben". Sie schließt mich sofort in die Arme und gibt mir einen sanften Kuss auf die Wange, als sie sich wieder von mir löst. Lächelnd schüttelt sie den Kopf. "Wie hübsch du geworden bist!"
Wie oft ich dieses Kompliment doch schon gehört hab, seitdem wir in London sind. "Wie sieht es aus? Wollt ihr einen Earl Grey?" fragt sie und stellt den Wasserkocher an. "Gerne" sage ich. Lou ist eine von Isabelle's besten Freundinnen, so weit ich weiß, kennen die Beiden sich schon seit sie ganz klein waren. Sie hat langes karamellbraunes Haar und strahlend grüne Augen. Ihr kurzes dunkelblaues Sommerkleid umschmeichelt ihre schlanke Figur perfekt. "Wir haben heute neue Bücher bekommen, da sind echt ein paar tolle Bestseller dabei" sagt Lou, während sie die Teebeutel sucht. "Dann schaue ich mich mal um". Ich schlendere ein wenig die Regale entlang und streiche behutsam mit meinen Fingern über die Buchrücken. Im vorbeigehen lese ich mir die Titel durch, bis ich an einem Buch hängen bleibe. The fault in our stars. Wie oft ich mir mit Kimberly diesen Film angeschaut habe und jedes Mal mussten wir weinen. Eigentlich ist immer Kimberly diejenige, die Tränen vergießt. Aber dieser Film hatte einfach etwas Besonderes. Ich kann nicht sagen, was genau es war. Doch er hat mich total umgehauen. Ich hab selbst nicht einmal gemerkt, dass mir Tränen über die Wangen liefen, bis Kimberly mir ein Taschentuch reichte. Ich will schon weiter gehen, doch dann drehe ich rum und nehme das Buch mit.
"Ich verstehe es einfach nicht. Wieso hat Matthew Elle die Wahrheit noch nicht gesagt?" sagt Isabelle. Ich halte inne und lausche. "Ehrlich gesagt, kann ich ihn verstehen. Es ist bestimmt nicht einfach seiner Tochter so etwas zu sagen". Was will Dad mir denn erzählen? "Deswegen hat er noch lange nicht das Recht, sie anzulügen" erwidert Isabelle. "Und was willst du jetzt tun? Es ihr selbst sagen?" meint Lou und ich höre, wie sie den Tee in Tassen gießt. "Nein, das sollte er selbst machen. Aber ich werde mit Matthew reden". Isabelle seufzt. Damit ist das Gespräch der Beiden beendet und ich weiß genauso viel wie vorher. Was soll Dad mir denn unbedingt sagen? Und wieso weiß Isabelle davon? Was verschweigt meine Tante mir? Ich schüttle den Kopf und höre auf zu grübeln. Stattdessen gehe ich zurück zu Isabelle und Lou und lege das Buch auf den Tisch. "Du bist fündig geworden" stellt Lou lächelnd fest und mustert das Buch, das ich mir ausgesucht habe. "Oh ja, das Buch wird dir sicher gefallen". Isabelle, die sich auf den Tisch gesetzt hat und ihre Beine leicht baumeln lässt, reicht mir meine Teetasse. "Du hast dir den Film doch schon angeschaut" erinnert sie sich und ich nehme ihr meine Tasse ab. "Das stimmt, aber es ist schon so lange her und ich glaube, ich sollte das Buch lesen". Ich lasse weg, dass ich Kimberly schrecklich vermisse und mich ihr dadurch wieder näher fühle. "Wie gefällt es dir in London?" fragt Louisa und ich nippe an meiner Tasse, bevor ich ihr antworte. "Mir hat die Stadt schon immer gefallen. Aber ich hab mich noch nicht ganz an den Gedanken gewöhnt, jetzt hier zu wohnen". Ich sehe Isabelle an und sie lächelt leicht. Ihre Worte lassen mich nicht los, aber deswegen vertraue ich ihr trotzdem immer noch. Sie würde mich nicht belügen, dass weiß ich einfach, außer wenn mir die Wahrheit den Boden unter den Füßen wegziehen würde. Aber was konnte so schlimm sein? Lou steckt das Buch in eine hellgrüne Papiertüte und ich nehme sie entgegen. Isabelle stellt ihre Tasse ab und lässt sich wieder vom Tisch gleiten. Ich trinke ebenfalls meinen Tee aus. "Also, wo möchtest du hin?" fragt Isabelle. "Ich dachte, wir gehen wieder nach Hause". Meine Tante verdreht die Augen. "Seit wann bist du denn so langweilig?". Ich hebe den Finger. "Du wirst noch bereuen, das gesagt zu haben". Wir lachen Beide. "Es hat mich gefreut, dass ihr da wart" sagt Linda, die uns lächelnd beobachtet. Ich umarme sie noch einmal und Isabelle gibt Lou einen Kuss auf die Wange. "Wir sehen uns".

You've reached the end of published parts.

⏰ Last updated: Sep 11, 2017 ⏰

Add this story to your Library to get notified about new parts!

Where we go Where stories live. Discover now