5. Kapitel Elle

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In London regnet es. Papa hievt gerade unsere zwei Koffer ins Taxi, während ich noch trocken vor der großen Eingangstür zum Flughafen stehe. Als er den Kofferraum schließt, ziehe ich meine Jacke fester um meinen Körper und gehe schnell zu ihm herüber, öffne die Autotür und steige ein.
Papa sagt dem Fahrer die Adresse und schon setzt sich das Taxi in Bewegung. Ich lehne mein Gesicht an die kühle Fensterscheibe und beobachte die vorbeiziehenden Menschen, die mit ihrem Gepäck über den Platz zu ihren Autos eilen und versuchen dabei halbwegs trocken zu bleiben, was nicht wirklich gelingt, weil es wie aus Eimern schüttet. Es heißt doch immer London sei für sein durchgängiges Regenwetter bekannt, aber das stimmt eigentlich gar nicht. Die meiste Zeit scheint hier die Sonne, aber wenn es einmal regnet, hört es nicht gleich wieder auf. Ein Mann in schlichtem dunkelblauen Anzug steigt gerade in ein schwarzes Taxi ein. In der einen Hand hält er seinen Kaffeebecher, mit der anderen transportiert er seine übervolle Aktentasche. Er stellt kurz den Pappbecher auf dem Dach ab, um die Tür zu öffnen, dann ist er auch schon im Auto verschwunden. "Dann wird das mit dem Baden heute wahrscheinlich nichts mehr" sagt Papa, als wir an einer roten Ampel halten und ich setze mich auf. Menschen hetzen über den Zebrastreifen auf die andere Straßenseite. Ein Mann der mit einem Ohr an seinem Telefon hängt, rempelt aus Versehen ein kleines Mädchen an. Er schaut kurz auf um sich bei der Mutter des Kindes zu entschuldigen, die ihm mit einem Kopfschütteln hinterher sieht. Ich werde nie verstehen, warum es die Leute in London immer so eilig haben. Ich schaue Papa an und schenke ihm ein kleines Lächeln. "Ach was, dann gehen wir halt morgen in den Hempstead Heath" meine ich und er erwidert mein Lächeln. Ich bin ihm nicht mehr böse, das war ich viel zu lange, wöllte aber doch gern wissen, was ihn dazu bewogen hat so plötzlich in eine andere Stadt zu ziehen. Er wird es mir schon noch erzählen... hoffe ich. Die Fahrt vergeht ziemlich schnell, worüber ich froh bin, denn wenn ich etwas wirklich hasse, dann sind es lange Autofahrten.
Papa bezahlt den Taxifahrer und stellt unsere Koffer auf den Bürgersteig. Ich drehe mich um und sehe stumm das wunderschöne Backsteinhaus vor uns an. Ich fand das Haus von Oma schon immer beeindruckend, aber es ist so viel Zeit vergangen seitdem wir das letzte Mal hier waren, dass ich es jetzt einfach nur bewundern kann.
"Hat es dich umgehauen?" fragt Papa und lacht leicht. "Es ist so lange her, dass wir Oma besucht haben" sage ich und umklammere den Griff meines Koffers. Jetzt bin ich doch etwas aufgeregt! Papa geht die Stufen rauf, die links und rechts von einem schwarz lackiertem Geländer eingerahmt werden und drückt die Klingel neben der ebenfalls schwarz glänzenden Haustür. Kurz darauf wird sie geöffnet und Oma tritt hinaus. Mir wird plötzlich bewusst, wie sehr ich sie vermisst habe. Großmama trägt ihre türkis gepunktete Backschürze und lächelt herzerwärmend. "Matthew". Sie drückt Papa, während auch ich mit meinem Koffer die Stufen hinaufgehe. Als sie sich voneinander lösen, trifft ihr Blick auf mich und ihr Lächeln wird noch breiter. "Elle, mein Schatz" Fast kommen ihr die Tränen. Sie schließt mich fest in die Arme und ich schmiege mich an sie. Nachdem sie sich von mir gelöst hat, nimmt sie meine Hände und mustert mich lächelnd.
"Schau dich nur an, wie hübsch du geworden bist. Und so groß. Wo ist mein kleines Mädchen hin?" Ich muss lachen. "Ich freu mich dich zu sehen" sage ich und sie zieht mich wieder in ihre Arme. "Ich freu mich auch, dich wieder in die Arme schließen zu können. Aber jetzt kommt erstmal rein, ich hab Brownies und deine Lieblingscookies gebacken".
Wir schnappen uns die Koffer und treten in den Flur. Oma bindet sich die Backschürze ab und verschwindet in der Küche, während wir die Koffer abstellen und unsere Jacken abstreifen. Ich stelle meine braunen Wildlederboots neben die Schuhe von Papa und hänge meinen schwarzen Sommermantel auf. Dann gehe ich zu Oma in die Küche, während Papa es sich auf dem großen Sofa gemütlich macht. "Hmm, riecht das gut" schwärme ich. Oma gibt mir eine große Schüssel mit Brownies und Chocolatechip-cookies. "Damit hab ich dich schon als kleines Mädchen rumgekriegt, wenn du nicht hören wolltest" sagt sie schmunzelnd und ich stecke mir einen Keks in den Mund. Noch bevor ich ihn überhaupt esse, schwebe ich auf Wolken. Das ist unglaublich! Eine wahre Geschmacksexplosion. Ich werde wohl nie begreifen, wie Oma die so gut hinbekommt. "He, ich war immer ein kleines braves Mädchen" verteidige ich mich und bringe Oma zum Schmunzeln. Sie nimmt die Tassen mit heißer Schokolade und geht hinüber ins Wohnzimmer. "Meistens jedenfalls" sagt sie und zwinkert mir zu. Ich stelle die Schüssel auf den kleinen Holztisch vor dem Sofa und lasse mich in den weichen dunkelroten Sessel fallen. "Wie war euer Flug?" fragt Großmama und nippt an ihrer Tasse. "Ein wenig anstrengend" sagt Papa. "Aber es hat sich gelohnt, denn wir haben dich und Isabelle unheimlich vermisst" füge ich hinzu. Oma strahlt, wobei ihre blauen Augen anfangen zu glänzen. "Wo ist Isabelle eigentlich?" fragt Papa und nimmt sich noch einen Brownie.
Oma antwortet nicht gleich und ich sehe misstrauisch von meiner Tasse auf. Was ist denn los? Hat sie etwa vergessen, wo ihre Tochter hingegangen ist? Dieser Gedanke ist so absurd, dass ich ihn schnell wieder verdränge. Großmama nippt noch einmal an ihrer Tasse. "Isabelle musste für Meg im Café einspringen, sie wird aber auch gleich da sein" sagt sie und fast bin ich erleichtert, Oma vergisst doch solche Sachen nicht. Genau in diesem Moment wird die Haustür aufgeschlossen. "Ich bin wieder da, Mom! Aber ich hab vergessen, die Milch mitzubringen, muss also später nochmal einkaufen gehen". Meine Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln. "Na dann kann ich dich ja begleiten, meine Lieblingstante" rufe ich und kurz ist es still. Dann schaut Isabelle um die Ecke zu uns ins Wohnzimmer und strahlt, als sie Papa und mich sieht. "Ihr seid ja schon da" stellt sie fest und ich springe auf, laufe zu ihr und werfe mich ihr in die Arme.
Sofort drückt sie mich an sich und haucht mir einen Kuss auf das Haar.
"Wie ich mich freue, dich zu sehen, meine Süße" sagt sie leise und ich löse mich, um sie ansehen zu können. Ihr grünen Augen strahlen und sie lächelt. Ehrlich, ich hab noch nie so ein schönes Lächeln gesehen, als das von meiner Tante. Ihre blonden Haare fallen in Locken auf ihre Schultern.
"Elle, wie wunderschön du geworden bist" schwärmt sie und eine leise Röte schleicht sich auf meine Wangen.
"Nicht schöner als du" kontere ich schmunzelnd. Sie schüttelt den Kopf.
"Das stimmt nicht". Isabelle legt ihre Handtasche auf der Kommode ab und streift die Ballerinas ab. "Matthew".
Papa ist inzwischen aufgestanden und sie schließt ihn in die Arme. "Schön dich zu sehen, Isabelle" sagt er an ihrer Halsbeuge. Dann lösen sie sich voneinander und ich setze mich wieder in den Sessel. Isabelle macht es sich neben Papa auf dem Sofa gemütlich und nimmt sich einen Cookie. "Meg würde morgen Abend gerne mit Rose zum Essen kommen" erzählt Isabelle.
"Wie geht es ihr?" fragt Papa. Ich wusste von meiner Tante, dass er früher mit Megan gut befreundet gewesen war. Isabelle schmunzelt.
"Sie war schon wieder mit einem Typen aus, aber diesmal hat sie ihn nicht abblitzen lassen. Ehrlich, ich glaube er gefällt ihr ganz gut". Papa schüttelt lächelnd den Kopf. Ich ziehe die Beine an und kuschle mich in die orangefarbene Decke. "Jetzt erzählt mir aber lieber von euch Beiden, ich will alles wissen" fordert Isabelle und steckt sich noch einen Cookie in den Mund. "Wo soll man da anfangen?" sage ich lächelnd. "Es ist ganz schön lange her, als wir uns das letzte Mal gesehen haben... als wir nach Berlin gezogen sind, habe ich neue Freunde kennengelernt. Echt, diese Stadt ist der Wahnsinn! Kimberly ist mit mir in einen Schauspielkurs gegangen, wo wir ein paar andere gute Freunde kennengelernt haben, die waren natürlich allesamt älter, als wir, aber du weißt ja, ich bin offen für alles" grinse ich. "Papa hat viel gearbeitet, aber ich war die meiste Zeit unterwegs, in Berlin entdeckt man ständig was neues, da wird einem so schnell nicht langweilig". Isabelle stellt ihre Tasse auf dem Tisch ab und schmunzelt.
"Und wie sieht es mit den Jungs aus?"
Ich beiße mir lächelnd auf die Unterlippe. "Das kannst auch nur du fragen" meint Papa und lacht leicht.
"Was willst du mir damit sagen, Matt?"  hakt sie gespielt empört nach. Oma beobachtet die Beiden lächelnd und nippt ab und zu an ihren Kakao.
"In der Schule hat immer irgendein anderer Typ an dir geklebt, wenn ich mich mal für eine Sekunde umgedreht habe". Isabelle grinst. "Ich kann doch nichts dafür, wenn die Männer mir nicht widerstehen können". Wenigstens fragte Isabelle nicht nochmal nach, ob ich nun einen Freund hatte oder nicht. Ich wollte ihr von Nate erzählen, aber doch nicht wenn Oma und Papa dabeisaßen.
Wir waren nie wirklich zusammen gewesen, es hatte sich aufregend angefühlt etwas neues zu entdecken und dazu mit einem Jungen an meiner Seite, aber mehr war da nie zwischen uns gewesen. Ich war nie wirklich verliebt gewesen und das hatte Nate gespürt, doch gegen meine Erwartungen war er nicht böse, als ich ihm von meinen Gefühlen erzählte. Er war sogar erleichtert gewesen, denn auch er hatte mich eher als gute Freundin gesehen. Und trotzdem hatte ich immer das Gefühl gehabt, ihn verletzt zu haben, auch wenn er mir versichert hatte, dass ich mir nicht den Kopf darüber zerbrechen musste. Es war nur Freundschaft gewesen... mit leidenschaftlichen Küssen. Mehr war nie passiert. "Also, dann lass uns mal London unsicher machen, Elle" wirft Isabelle ein und ich schäle mich aus der Kuscheldecke. "Mit dir immer gerne"

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