Kapitel 14

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In der vierten Klasse bin ich einmal gegen einen Stromzaun gelaufen. Ich wollte die Pferde auf der Weide dahinter streicheln. Wohl wissend, dass es sich um einen Stromzaun handelte und das eine Berührung schmerzhaft werden würde, hatte ich mich in einigem Abstand breitbeinig hingestellt und nach vorne gelehnt, um mit meiner kleinen Hand die Schnauze eines niedlichen Ponys zutätscheln. Ich verlor den Halt und kippte vornüber.

Diese Erinnerung kam mir für den Bruchteil einer Sekunde in den Sinn, bevor mich Schock und Schmerz wieder überrollten. Denn auch damals hatte ich das Gefühl, dass etwas unglaublich schweres gegen meinen Rücken geschwungen wurde. Nach Luft schnappend kippte ich nach vorne. Meine Sinne waren beinahe völlig ausgeschaltet. Wie eine grauenhafte Diashow zeigten sich die Schrecken der letzten Zeit, gefolgt von einem weiteren „Stromstoß".Immer schneller wischten die Gesichter alter und neuer Bekannter hin und her, und unter sie mischten sich Fremde, die mir jedoch schrecklich vertraut vorkamen. Sie bewegten sich, riefen mir Dinge zu, die ich nicht verstand. Kleine Schmerzwellen liefen durch meinen Körper, ich schüttelte mich.

Und mit einem Mal hörte es auf. Ich konnte meine Umgebung wieder wahrnehmen und die Schmerzwellen ebbten langsam zu kleinen Schauern ab. Mein Blick klärte sich und ich konnte die Halle wieder mit allen Einzelheiten erkennen. Etwas musste sich verändert haben. Denn wo eben noch nur Strucker, Dr. List und einige Menschen in Kitteln saßen und sich leise unterhalten hatten, wimmelte es nun von Soldaten. Eine schreckliches Geräusch drang langsam an meine Ohren. Eine Art Sirene, nur irgendwie lauter, dröhnender.Es tat in den Ohren weh. Ich kauerte auf dem Boden und betrachtete für einen kurzen Moment meine Hände. Dann richtete ich mich langsam auf. Sofort gingen die Soldaten in Stellung und zielten auf mich. Ein rotes Licht begann zu flackern. Eine blecherne Stimme mischte sich unter die Sirene. „Subjekt M95263W! Machen sie keine ruckartigen Bewegungen und heben sie die Hände langsam über den Kopf!" Ich blinzelte einige Male und erhob mich dann. Es gab einige Klicklaute hinter mir. Vorsichtig hob ich die Hände ein Stück und drehte mich um. Hinter mir standen ebenfalls Soldaten. Sie waren schwer gepanzert und trugen nur kleine Pistolen bei sich, verschanzten sich dafür aber hinter großen Schilden, wie man sie manchmal bei Demonstrationen im Fernsehen sah. Ihre Bewegungen wirkten gut trainiert und genauestens geplant. Dennoch stand den meisten von ihnen die Angst ins Gesicht geschrieben. Fasziniert betrachtete ich ihre zitternden Hände und die kleinen Schweißperlen, die ihnen langsam unter ihren Helmen über das Gesicht liefen. Ich verstand nur nicht, wovor sie Angst hatten.

Ich drehte mich einmal im Kreis und sog jedes Detail auf. Es war jetzt anders. Ich konnte beinahe alles sehen,hören, riechen – fühlen. Alle meine Sinne waren scharf wie noch nie, schärfer als sie sein sollten. Es war wunderbar. Mir war nur nicht klar, wieso diese Soldaten so viel Angst hatten. Ich konnte zwar jeden von ihnen atmen hören, aber woher sollten sie das wissen?Ich machte vorsichtig einen Schritt auf die Tribüne zu. Sofort schrie die Stimme mich wieder an: „Bleiben sie wo sie sind! Bewegen sie sich nicht von der Stelle." Ich verstand es immer noch nicht.Ich machte noch einen Schritt. „Machen sie noch einen Schritt und wir schießen!" Ich blieb stehen. Du darfst nicht sterben!, schoss mir durch den Kopf. Langsam drehte ich mich wieder zu den Soldaten in der Halle um.Ich hob die Hände auf Kopfhöhe.

Und dann ging alles sehr schnell. Einem der Soldaten rutschte der Finger aus. Er hatte die ganze Zeit sogar für normale Augen deutlich erkennbar gezittert, und meine Bewegung musste ihn noch mehr erschreckt haben.

Ein unglaublicher Schmerz explodierte in meinem rechten Knie. Gleichzeitig hörte die Sirene auf. Die Lampen gingen aus. Der ganze Raum verdunkelte sich. Aus de rFinsternis schälten sich pulsierende Lichtpunkte, die sich zu Strömen zusammenfügten und den ganzen Raum zu durchfließen schienen. Die Soldaten nahm ich nur noch als undeutliche Schemen wahr, die sich irgendwo in der Finsternis langsam heran bewegten.Doch meine ganze Aufmerksamkeit galt den Lichtströmen. Sie schienen immer stärker zu pulsieren, je mehr ich mich auf sie konzentrierte.Ich bewegte den Kopf langsam hin und her. Und unglaublicherweise änderten sich die Fließbewegungen der Lichtströme. Zuerst waren es nur kleine, kaum bemerkbare Wellen. Doch sobald ich meinen Kopf ein kleines Stück weiter bewegte, vergrößerten sich die Wellen. Ich behielt meine kreisenden Kopfbewegungen bei, und betrachtete fasziniert, wie die Lichtströme auf jede noch so kleine Bewegung reagierten. Das müssen die Stromleitungen sein! Schoss es mir durch den Kopf. Langsam hob ich den Arm und spürte beinahe sofort wieder ein warmes Kribbeln. Erstaunt beobachtete ich, wie der erste Lichtstrom seine Fließrichtung komplett änderte und auf meine Finger zuhielt. Mit großen Augen betrachtete ich den pulsierenden Strom aus Energie, der sich zögerlich um meine Hand legte. Ich spürte die gewaltige Macht, die in dem wunderschönen Lichtband floss, das sich nun langsam um meinen Arm wickelte. Das Gefühl war unbeschreiblich.

Ob dieser Moment wenige Sekunden oder viele Stunden dauerte, kann ich nicht mehr sagen. Doch er endete, wie er angefangen hatte. Mit Schmerz.

Ein weiterer Schmerz explodierte, dieses Mal in meiner rechten Schulter, deren Arm ich erhoben hatte. Mein Arm wurde nach hinten geschleudert und ich in die Wirklichkeit zurückgeholt. Die Soldaten waren weiter vorgerückt und der Vorderste hatte seine Waffe erhoben. Anscheinend hatte er geschossen. Ich betrachtete ihn genauer. Er zeigte nicht die gleichen Anzeichen wie seine Kameraden. Er schwitzte nicht, atmete normal und der Arm mit der erhobenen Waffe zitterte kein bisschen. „Arme unten lassen, nicht bewegen." sagte er mit ruhiger aber bestimmter Stimme. Die Worte drangen durch die Wand aus Schmerz kaum zu mir durch. Da ich nicht mehr in der Lage war, den Arm zu heben wartete ich nur noch die erlösende Ohnmacht ab.

Doch die kam nicht.Stattdessen hörte ich ein leises Knistern. Kurz darauf kribbelte es wieder in meinen Händen und sie wurden warm. Ich konnte die Energie jetzt nicht mehr sehen, aber dennoch spüren. Mir kam ein Gedanke.Ein abwegiger und verrückter Gedanke, der so gar nicht zu mir passte. Aber sie haben dir wehgetan... Ich versuchte, nicht auf die kleine Stimme in meinem Kopf zu hören. Das passte nicht zu mir. Ein leises Klicken drang an mein Ohr. Er will noch einmal schießen!, wurde mir plötzlich klar. Panik mischte sich unter Schmerz, Verzweiflung und den letzten Rest Überraschung. Ich war schlichtweg überfordert. Die kleine Stimme wurde immer drängender. Und mein Widerstand immer geringer. Du hast versprochen zu leben.Das stimmte. Und dieses Versprechen galt noch. Ich drehte die Handflächen, ganz leicht. Wie genau ich es tat, wusste ich nicht.Doch nachdem ich meinen Plan verinnerlicht hatte genügte eine kleine Handbewegung, ein kleiner Anstoß und die Energie entlud sich in einer gewaltigen Explosion.

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