Kapitel 3

119 9 0
                                    

Das Taxi kämpfte sich mühselig durch den Abendverkehr. Der Fahrer hörte einen Klassiksender, doch der Nachrichtensprecher im Radio der Frau im Auto vor uns berichtete von einem Unfall in der Innenstadt, durch den die Menschen mit Verspätungen von bis zu einer Stunde rechnen musste. Genervt holte ich mein Handy hervor und war insgeheim dankbar dafür, dass der Arzt die Rechnung bezahlte. Das ticken des Taxameters machte mich wahnsinnig. Meine Gedanken machten mich wahnsinnig. Mutation. Mutanten waren mehr oder weniger Ausgestoßene. Jedenfalls in meiner gewohnten Gesellschaft. Ich hatte Angst. Mir war klar, dass es kaum eine andere logische Erklärung für meinen Fall gab. Aber ein Mutant? Machte sich das Mutantengen wirklich erst so spät bemerkbar? Was würde Sven sagen? Und Eva? Wie sollte ich es meinen Eltern erklären? Sie würden sich selbst die Schuld geben. Hatte überhaupt jemand Schuld an Mutation? Gott? Ich hatte keine Ahnung und meine Gedanken drehten sich immer schneller im Kreis. Ich bekam langsam Panik. Ich versuchte, mich zu beruhigen und rief Sven an. „Hey Schatz, es wird heute Abend ein bisschen später, ich soll noch zu einem anderen Arzt." Stille am anderen Ende. „Okay." antwortete er nach einer Weile. „Ich mach dann schon einmal Abendbrot." „Ist alles in Ordnung bei dir?" fragte ich besorgt, denn er hörte sich seltsam an. „Ja, hier ist alles in Ordnung. Wirklich, ich bin nur Müde von der Arbeit." „Okay, dann leg dich noch kurz hin, und wenn du aufwachst bin ich wieder da." sagte ich zögernd. „Ja, ich glaub das mache ich... Bis nachher." „Ich hab dich lieb!" setzte ich noch nach, aber er hatte bereits aufgelegt. Ich hatte keine Zeit um mir groß darüber Gedanken zu machen, denn das Taxi hatte sein Ziel erreicht. Ich bezahlte den Fahrer und stieg langsam die Treppen der auf der Karte angegebenen Adresse hinauf. Es war ein ganz normales Ärztehaus. Als ich meine Hand hob um an der Tür zu klopfen, fiel mein Blick auf meine Uhr. Und plötzlich fiel mir auf, dass Sven gelogen haben musste. Heute waren wichtige Besprechungen in seiner Firma, und er hatte sich seit Tagen darauf vorbereitet. Seine Arbeit war ihm wichtig, und bei diesem Meeting konnten sich gute Chancen für ihn ergeben. Dieses Meeting hatte vor einer halben Stunde begonnen.

Die Tür öffnete sich und eine junge Frau kam herein. Sie mochte nicht älter als 20 sein und sie wirkte leicht verstört. Er begrüßte sie mit einem freundlichen „Guten Abend." und deutete auf den Stuhl vor sich. Sie ließ sich erschöpft fallen. „Sie wissen, wieso sie hier sind?" fragte er. „Ich habe eine Ahnung, aber ich glaube, dass ihr Kollege falsch lag." Sie war unsicher und strich sich immer wieder die langen braunen Haare aus der Stirn. „Wie kommen sie darauf?" fragte er verwundert. Sie warf immer wieder besorgte Blicke auf die Uhr an der Wand. Er räusperte sich und sie begann zu erzählen. Nachdem sie geendet hatte, sah er sie nachdenklich an. Sie war wirklich ein besonderer Fall, da hatte Markus nicht übertrieben. Normalerweise zeigte sich das Mutantengen schon während der Kindheit. Es hatte bereits einen ähnlichen Fall in Südostasien gegeben, doch leider war der betroffene Mutant nach einigen Tests verschwunden. Er lächelte die junge Frau an. „Hören sie Nora - ich darf doch Nora sagen, oder? Ich würde gerne einige Tests mit ihnen machen um sicherzugehen. Aber mit höchster Wahrscheinlichkeit tragen sie das Mutantengen in sich. Sie zuckte zusammen. „Das kann nicht sein, ich bin zu alt. Und niemand sonst in meiner Familie ist betroffen. Sie müssen sich irren, bitte." Sie klang flehend, und sie tat ihm leid. Mutanten wurden in vielen Gesellschaften nicht akzeptiert. Die Menschen hatten Angst vor dem Unbekannten, also hielten sie sich davon fern. „Bitte, wenn wir uns beeilen haben wir noch heute Abend Gewissheit." Er sah ihr in die Augen. Sie hatten eine interessante Farbe und riefen um Hilfe. Er fühlte sich unwohl. Er wollte diesem Mädchen kein Leid zufügen. Er schluckte seine Gefühle herunter. Seine Mutter hatte Recht, er war zu weich für diesen Job. Trotzdem machte er mit Nora einige Standardtests mit Nora, um sie ein wenig zu beruhigen. Zum Schluss nahm er ihr Blut ab. „Können sie denn so schnell daraus lesen, ob ich ein Mutant bin oder nicht?" fragte sie erstaunt. Das war immer der schwierigste Teil. Erst zwei Patienten hatten ihn nicht danach gefragt. „Wir haben hier ein spezielles Gerät, dass extra zum Nachweis des Gens entwickelt wurde. Ich besitze nur eines, weil ich einer der wenigen Spezialisten für Mutation in Deutschland bin." Sie glaubte ihm offensichtlich nicht, widersprach aber auch nicht. Die meisten seiner Patienten gaben sich mit dieser Erklärung zufrieden. Die meisten Patienten waren allerdings jünger und in Begleitung besorgter Eltern, denen er alles erzählen konnte. Er holte tief Luft und ging in das angrenzende Labor. Wahrscheinlich würde sie nach ihrer Beschreibung sowieso hören können, was er tat, doch er wollte nichts riskieren. Er öffnete das Röhrchen und entnahm mit einer Pipette einige Tropfen Blut. Er vergewisserte sich noch dreimal, ob alle Türen wirklich geschlossen waren und ließ dann einen Tropfen auf seine Zunge fallen. Er schloss die Augen und machte sich an die Arbeit.

„Haben sie mein Blut wirklich getrunken?" fragte Nora erstaunt. Er seufzte. „Ich hätte mir denken können das du das mitbekommst." Sie rannte nicht schreiend aus dem Raum und sie wirkte auch nicht angeekelt. Sie betrachtete ihn mit einem neugierigen Blick. „Sie sind auch einer, oder? Ein Mutant meine ich." Er seufzte. „Ja, ich bin ein Mutant. Ich 'schmecke' Krankheiten und andere Auffälligkeiten im Blut fremder Menschen. Keine besonders aufregende Kraft, oder?" „Nicht wirklich. Aber sie scheint nützlich zu sein." Erleichtert atmete er auf. „Weißt du, nicht alle reagieren so entspannt wie du. Ich muss es so gut es geht geheimhalten, sonst ist mein Ruf dahin. Und ich bin für viele Mutanten in der Region so etwas wie ein Psychiater geworden." „Keine Angst, ich werde es niemandem erzählen." Er nickte dankbar. „Bin ich jetzt einer?" fragte sie. Er setzte sich wieder und sah ihr direkt in die Augen. „Ja, du bist ein Mutant. Du bist nicht schwach, aber ich habe schon deutlich stärkere gesehen. Du kannst deine Kräfte nicht kontrollieren, jedenfalls nicht alle. Ich habe noch etwas anderes als deine geschärften Sinne geschmeckt. Ich nehme mal an, das der Vorfall im Wartezimmer etwas damit zu tun hat. Du hast fremde Stimmen gehört, oder? Ich glaube, dass du von Zeit zu Zeit Gedanken wahrnimmst. Deine Kräfte werden noch ungefähr einen Monat brauchen, bis sie sich voll entwickelt haben. Bis dahin empfehle ich dir, mich regelmäßig zu besuchen. Ich kann dir helfen deine Gabe zu verstecken." Sie sah nachdenklich aus. „Was haben sie noch geschmeckt?" Überrascht sah er sie an. „Willst du das wirklich wissen?" Sie nickte. „Du machst dir große Sorgen um deine Zukunft. Deswegen auch meine Empfehlung. Ich weiß, wie gefährlich es für Mutanten in der Welt sein kann, und wie einsam sich manche fühlen. Außerdem machst du dir Sorgen um deinen Freund." Sie schnappte nach Luft. „Er hat etwas wichtiges verpasst, und du willst eigentlich nur noch zu ihm und herausfinden was los ist. Deswegen empfehle ich dir nach Hause zu gehen. Rede mit deinem Freund. Schlaf, wenn es geht. Und denk vor allem darüber nach, wie du mit der Tatsache, das du ein Mutant bist, umgehen willst." „Das alles schmecken sie aus meinem Blut?" fragte sie überrascht und stand auf. „Ich werde über dieses Gespräch nachdenken und sie morgen anrufen." Sie wirkte kein bisschen verstört oder eingeschüchtert. Doch als er aufstand und ihr die Hand gab, merkte er wie sehr sie zitterte. Ihr Augen begegneten sich abermals und es lag ein stummer Hilfeschrei in ihnen. Er drückte ihre Hand ein weiteres mal und nickte. Sie ging aus der Tür und plötzlich hatte er das Bedürfnis, ihr nachzurennen und die ganze Wahrheit zu sagen. Aber das konnte er nicht, er hatte sich geschworen nie in die Zukunft eines Menschen einzugreifen. Er konnte nur mit ihnen reden und ihnen so so gut es ging den richtigen Weg zeigen. Doch auch in diesem Fall war Nora anders. Er konnte nur vage Strömungen wahrnehmen, doch diese machten ihm Angst. Eines jedoch konnte er mit Sicherheit sagen: Etwas großes kam auf Nora zu, und er war sich nicht sicher, ob sie dem gewachsen war.

BlackoutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt