1. Brief

383 49 48
                                    





Liebste Leica,

nun öffnest du also diesen Brief - den ersten Brief und damit ist wohl vollkommen klar, dass ich den Kampf gegen meine Krankheit letztendlich doch verloren habe. Aber nichts für ungut, mir geht es super. Endlich bin ich von all den Schmerzen und den Qualen dieser Welt erlöst. Lebe in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Ich bin mir sicher, dass was mich im Reich Gottes erwartet, übertrifft all meine Vorstellungen.

Nun aber zu dir... Wie geht es dir, meine Liebe? Und eigentlich kann ich diese Frage sofort wieder aus diesem Brief streichen, denn ich nehme jetzt einfach mal an, dass es dir nicht sonderlich gut geht.

Tja, gut dass ich diese Briefe hier schreibe, denn dass du trauerst muss jetzt sofort ein Ende nehmen. Den Weg zurück ins Leben sollst du gehen und glaube mir, dies ist garantiert nicht leicht, aber in ein paar Wochen oder gar Monaten wird es auch nicht leichter, also fange am besten schon heute damit an.

Erinnerst du dich noch an unser gemeinsames Erlebnis vor gut einem Jahr, an dem uns mehr als bewusst wurde, dass Aufschieben keinesfalls die beste Möglichkeit ist, das Wesen Gottes kennenzulernen und zu erfahren.

Seinen Glauben in das Leben integrieren ist oft leichter gesagt als getan.

Wir haben uns vorgenommen eine gemeinsame Bibelwoche zu organisieren, weil es so etwas bei uns in der Gemeinde noch nie gab. Ich weiß noch ganz genau, es war deine Idee und ich war sofort hell auf begeistert. Wir sind ganz spontan und schnellst möglich zu meinen Eltern gerannt, - sie waren die nächsten die wir erreichen konnten, - und haben ihnen unsere Idee mitgeteilt.

Ich habe das Gesicht meiner Mum noch so unendlich gut in Erinnerung und es tut weh daran zu denken, weil ich weiß, dass sie niemals verstehen wird was in meinem Herzen vorgeht.

Sie wird nicht kapieren, dass ich kämpfen werde. Sie wird einfach nicht verstehen, dass ich diesen Kick manchmal brauche. Das zu machen, was all die anderen Mädchen in meinem Alter auch tun. Mich auch mal in Gefahr begeben, zu viel Alkohol trinken, mit einem Jungen flirten,... all diese Dinge eben, ich bin doch auch nur ein normales Mädchen. Ich bin doch genauso wie du. Ich bin doch nicht anders, nur weil ich diese blöde Krankheit habe, dass ist doch unfair.

Ich darf nicht allein durch den Wald streifen - es könnte ja etwas passierten. Ich darf nicht einfach mal feiern gehen, weil ich doch auf meinen Körper achten soll. Ich darf nichts mir Jungs anfangen, weil ich irgendwann gehen werde und sie dann allein dastehen. Meine Mum war anfangs nicht mal sonderlich begeistert über unser Freundschaft.

Ich habe dir nie davon erzählt und es ist auch längst nicht mehr von Bedeutung, aber ich will, dass du weißt, dass ich selbst um dich kämpfen musste und jetzt ist es deine Aufgabe um dich selbst zu kämpfen, weil ich nicht mehr da bin und diese Aufgabe nicht mehr übernehmen kann.

Meine Mum meinte ich würde dir nur das Herz brechen - irgendwann. Sie meinte ich würde dir ein Stück deines Lebens rauben. Sport machen, feiern gehen, Spaß haben, weil wir das zusammen nicht können. Teilweise habe ich sogar angefangen daran zu glauben. Daran, dass du ohne mich wirklich besser dran wärst, dass du dir nicht ständig Sorgen machen müsstest und dass du jetzt diese Brief niemals bekommen hättest und dass du gleichzeitig auch nicht leiden müsstest, nicht wegen mir.

Doch du kennst mich in der Zwischenzeit zu gut, als dass du nicht wüsstest, dass ich niemals auf meinen Kopf höre, sondern immer nur auf mein Herz, weil es mir so viel sagt und weil ich so dankbar bin, dass es schlägt, noch, dass es so lange geschlagen hat und dass unsere gemeinsame Zeit so wundervoll war, jede einzelne Minute, denn meine Mum konnte mich nie vom Leben abhalten, sie wollte es ja nicht einmal. Sie hatte ja stets nur im Kopf, dass ich möglichst lange lebe, möglichst wenig Dinge mache, die mein Leben verkürzen könnten. Aber Leica, für mich bedeutete Leben immer etwas völlig anderes. Für mich bedeutete Leben Spaß. Spaß, Gemeinschaft, Freude, Energie und auch solch eine Bibelwoche.

Back to LifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt