Irgendwann stehe ich im Krankenflügel und es kommt alles wieder hoch. Die Gedanken an meine Flucht, an meine Verwirrung, an die vielen unbekannten Gesichter. An die Protektoren. Die Angst. Ruven.

Sein Geruch, sein Lächeln, die Art wie er atmet, seine Augen.

Sein starrer Blick...

Nein.

„Kann ich dir helfen?", ertönt eine weiche Stimme. Ich schüttel nur stumm den Kopf. Nein nicht wirklich. Ich wüsste nicht wie, es sei denn die nette Helferin mit dem besorgten Blick könnte alles ungeschehen machen, oder es mich zumindest vergessen lassen. Ich bin zu schwach. Ich schaff das nicht.

Ich will diese Erinnerung nicht. Es ist eine Last, die mein Herz schnürt und mich nicht loslässt. Zu Boden zieht.

„Vielleicht doch", höre ich mich plötzlich mit belegter Stimme sagen:

„Haben sie einen Trainingsraum?"

Ich setze meinen Fuß vor Fuß. In meinen Ohren rauscht das Blut. Ich blicke nur starr auf eine kahle Wand. Sie ist weiß.

Ich kann nicht denken – bin zu sehr damit beschäftigt zu atmen. Ich fühle mich leicht und schwerelos. Meine Lungen brennen und meinen Beinen merke ich jeden Schritt an. Trotzdem verlange ich mir weiter mehr ab. Im Training in den Tracks durften wir nie etwas entscheiden- naja das durften wir eigentlich überhaupt kaum. Aber hier darf ich endlich so lange ich möchte und so schnell ich kann auf dem Laufband laufen. Bei uns hatten wir regelmäßige Fitness Einheiten im Tagesplan, wie unser Essen vorbestimmt und eingeplant. Über die Reife wurde das Gerät aktiviert und das Programm eingestellt, wenn man die Einheit absolviert hatten konnte das Gerät nicht mehr in Betrieb genommen werden. Mittlerweile weiß ich ja, dass es auf den Spare einzeln zu geschnitten war, um ihn optimal fit zu halten. Dennoch schmerzt der Gedanke kaum... mein Kopf ist damit beschäftigt meine Beine am Laufen zu halten.

Einfach weiter, irgendwie muss es ja schließlich weitergehen.

Eine Hand schiebt sich in mein Blickfeld. Eine Taste wird gedrückt. Ich werde langsamer. Vor meinen Augen tanzen weiße Lichter, ich spüre nur noch einen sanften Arm um meine Schulter.

„Trink", fordert mich eine angenehme Stimme auf. Ich halte ein Glas in der Hand. Ich trinke. Dann blicke ich Iven an und lächle verlegen: „Ich hab es wohl ein wenig übertrieben." Ein seltenes Grinsen zeichnet sich auf seinen Lippen ab: „Ein wenig?

„Es ist viel auf einmal, nicht?", er sieht mich mit schiefgelegtem Kopf an. Wir sitzen wieder in dem kleinen Raum mit dem roten Sofa. Ich nicke nur. Er zögert kurz bevor er weiterspricht: „Lag es daran, dass du außen warst? Ich... möchte dich nicht noch mehr belasten." Ein jähes Gefühl der Zuneigung erfasst mich für diesen jungen Mann mit den resignierten Augen. In seinem Blick liegt eine Wärme, die ich nur unbeholfen als Fürsorge bezeichnen könnte und die ich bis jetzt nur bei einem einzigen anderen gesehen habe. Ruven.

Etwas zieht sich in mir zusammen, ein Zittern wandert über meine Arme und ein ungutes Gefühl breitet sich in mir aus.

Ich wende den Blick ab. Es ist reiner Schmerz in seiner unverfälschtesten Form, der mich durchfährt, wenn ich in diese Augen sehe ... als wäre er noch hier, neben mir.

„Nein, daran lag es nicht", meine ich leise und betrachte meine Fingerspitzen. „Woran denn dann?", fragt er bedacht.

Ich erstarre kurz. Strenggenommen waren Lydias verletzende, aber auch wahre Worte der Auslöser, aber ich befürchte nichts Gutes, wenn Lydia das erfährt - sie kann mich auch so schon nicht leiden. Ich hole unmerklich kurz Luft und versuche ihm fest in die Augen zu sehen, als ich in meiner überzeugendsten Tonlage sage: „Nichts konkretes."

Es klappt nicht. Das letze Wort schlüpft erstickt über meine Lippen und schon muss ich seinem fragenden Blick ausweichen.

Ein kläglicher Versuch.

Er umfasst sanft mein Handgelenk und sieht mich forschend an.

„Ich habe Lydia gehört, wie sie.... mit Joe über mich geredet hat", gestehe ich seufzend und füge schnell hinzu: „Es war nichts böses, aber sie hat Recht. Ich beteilige mich hier nicht." Ich suche nach Worten um mein Gefühl zu beschreiben: „Ich, ich sollte auch meinen Beitrag leisten. Einen Teil zurückgeben ... an euch, an die Organisation."

„Das würde ich nicht zu laut sagen", sagt er kaum hörbar, mehr zu sich selbst als an mich gewandt. Schließlich meint er ernst: „Alice, du musst das nicht. Du musst erst lernen zu verstehen. Du hast nicht einmal ansatzweise die Tragweite des Ganzen hier erfasst. Du kannst das auch gar nicht. Du bist in einer Welt, die deiner nicht im Geringsten ähnelt. Das braucht Zeit. Viel Zeit. Wenn du dich hier nur nahtlos einfügst und dich nicht damit auseinandersetzt bringt dich das nicht weiter."

„Wie schön, dass du so sorgsam für unsere Seite plädierst Iven...", durchschneidet eine kühle Stimme die Worte, die er so scheinbar verzweifelt zusammengefügt hat, damit auch ich sie verstehen kann. Lydia steht mit abschätzigem Gesichtsausdruck im Türrahmen. „Hier unten gibt es keine Seiten – nicht zwischen uns", ertönt hinter ihr erneut eine Stimme diesmal tiefer, beinahe gelassen. Forton tritt an ihr vorbei in den Raum und lässt den Blick über die Szenerie schweifen. Er wirkt bedächtig... aber auch reserviert.

Kurz huscht über Ivens Gesicht ein Gefühl, das ich nicht benennen kann. Als er schließlich leise erwidert: „Ihr haltet das also immer noch für eine gute Idee?", wirkt er nur noch sehr müde. „Es ist die Einzige", sagt Forton in einem endgültigen Ton, der mich aufhorchen lässt, er erscheint bedeutsam... und gefährlich.

Spares - Sag mir wer ich binWhere stories live. Discover now