Kapitel 11

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Ich liege im Bett und starre an die Decke.

Sanftes Morgenlicht fällt durch das schmale Oberlicht des Schlafraumes.

Meine Gedanken drehen sich und trotzdem komme ich nicht weiter.

Plötzlich wird der Vorhang beiseitegeschoben und Iven wirft einen Blick herein: „Darf ich?" Ich nicke nur, da ich bereits fertig angezogen bin und versuche nicht an meine zerzauste Aufwachfrisur zu denken.

Sein Blick ist warm, mit bedeutungsbelegter Stimme meint er: „Komm mit, ich zeig dir was."

Als ich in meine Schuhe schlüpfe meine ich neugierig: „Was denn?"

Er schweigt kurz, dann deutet sich ein Lächeln an: „Wir gehen nach außen..."

Auf meinen Lippen breitet sich unwillkürlich ein Grinsen aus, er erwidert es leicht und geht voran.

Ich laufe ungeduldig wie ein kleines Kind neben ihm her. Seit meiner Flucht aus Trakt 3 – dem ersten Mal- war ich nicht mehr außen und selbst daran erinnere ich mich nur verschwommen.

Bis jetzt kenne ich nur das Gebäude, bin ich nur durch die Gänge gestreift, habe hinter einige der schier unzähligen Türen gelugt oder vergeblich an Klinken gerüttelt, ich war in verschiedenen Bereichen und habe dabei diesen riesigen Komplex erforscht, den jeder hier nur den Kern nennt.

Das Gebäude der Organisation ist ein ausladender, flacher, alter Lagerhallenkomplex, der von Forton aufgekauft wurde. Die ursprüngliche Funktion im Erdgeschoss blieb zur Tarnung erhalten, während unter größter Geheimhaltung ein Keller ausgebaut wurde. Nach und nach breitete sich dort ein ausgetüfteltes System von allen notwendigen Zimmern aus und in den Tiefen der Sicherheit der Erde, weit weg von Regime und Diktatur begann das Herz der Organisation zu schlagen... für die ohne Rechte, für die ohne Stimme,

...für all jene wie mich.

Nun folge ich Iven mit unsicherem Schritt wie an meinem ersten Tag: Nervös auf dem Weg in unbekanntes Terrain.

Wir gehen Richtung Konferenzräume, aber bleiben auf dem breiten Hauptflur, schließlich gelangen wir auf der linken Seite zur massiven Tür des Sicherheitstrakts.

Neben der Tür ist ein Fingerabdruck Scanner. Iven legt die Hand auf und sie gibt Signal, dass wir durchgehen können. Es ist ein sehr großer Vertrauensbeweis, dass Iven hier jeder Zeit Zugang hat. Hier werden Protokolle, Pläne und auch einige Zugangsdaten aufbewahrt, manche vermuten sogar, dass Forton hier ein Arsenal von Waffen ansammelt. Neugierig werfe ich einen aufgeregten Blick hinter die sich öffnende Tür, werde allerdings enttäuscht. Es ist ein weiterer, wenn auch ungleich breiterer jedoch überschaubarer Flur. Aber genau uns gegenüber liegt eine graue stählerne Tür und auf diese steuert Iven gerade zu.

Mein Herz klopft. Mein Blut rauscht.

Und mit einem Mal wird mir bewusst: Ich bin am Leben. Ich lebe, ich fühle-

Wie ein Mensch.

Wie kann man daran nur zweifeln?

Iven hält plötzlich an der Tür daneben und meint: „Wir haben eine Ausgangsberechtigung erhalten, knapp eine Stunde. Haben sie die Information von Forton erhalten?"

Aus dem Zimmer ertönt eine helle Stimme, welche zustimmend klingt, daraufhin winkt Iven mich zu sich. Als erstes fällt mir der überfüllte Arbeitstisch ins Auge, das ganze Zimmer ist ordentlich, sortiert, übersichtlich. Der Tisch quillt hingegen förmlich über, undefinierbare Gegenstände türmen sich in einem nur ihnen bekannten Tanz über und neben und untereinander. Dahinter geht die zierliche Blondine beinahe verloren. Mit vertrauenserweckend zuversichtlichem Lächeln befestigt sie an unseren Handgelenken ähnliche Gegenstände wie die Reife der Spares.

Kurz flammt der ihn mir begrabene Schmerz auf, ich habe ihn sorgfältig weggesperrt und doch bröckelt mein errichteter Widerstand gegen ihn, denn die Situation erinnert mich so sehr an jene verhängnisvolle Nacht. Auch Ruven war ich unwissend aber vertrauensvoll gefolgt. Ebenfalls voll gespannter Erwartung, ebenfalls mit dem Ziel nach außen zu gelangen.

Und wo ich daraufhin - zu einem viel zu hohen Preis - die Freiheit erlangt habe,... ein kaum beschreibliches Gefühl durchdringt mich. Wie unbedacht ich doch sein Andenken herabsetze, indem ich mir diese Manschette anlegen lasse, die doch so sehr dem Symbol der Ketten meines alten Lebens ähnelt.

Verräterisch. Mir kommt das Wort für das Gefühl in den Sinn. Denn der Preis für meine Freiheit war sein Leben. Und meine Leichtfertigkeit ist nichts anderes als Verrat an diesem Akt.

„Keine Sorge", lächelt mich die Zierliche an. An einem Schild lese ich ihren Namen, Onab. Es ist seltsam, aber auf gewisse Weise beruhigt mich dieses Wissen. Ein Name kann viel verraten, viel aussagen. Er schafft Vertrauen und Nähe. Ich atme tief durch und erwidere Onabs Lächeln.

„Das sind SmartWatches, wir nennen sie einfach nur Smarties, wie die, naja, das wisst ihr nicht, unwichtig. Über den leicht bedienbaren Screen könnt ihr jederzeit Kontakt aufnehmen, in Notfällen einfach den seitlichen roten Knopf drücken, dann aktivieren wir die Abhörfunktion und greifen auf die Kamera zu, zusätzlich besitzen die Smarties noch einige Spielereien wie beispielsweise einen komplett gesicherten Ortungsdienst, der sowohl für uns in Notfällen, als auch für euch auf längeren Ausflügen praktisch ist. Aber für heute müsst ihr sie einfach nur tragen." Sie sieht mich ruhig an, aber ihre Augen funkeln vor Begeisterung. Ich betrachte ihre leicht zerzausten Haare und das Chaos des Tischs, was auch immer sie hier tut, sie liebt es. Ihre funkelnden Augen strahlen voller Stolz und Zufriedenheit. Mir ist - obwohl ich kaum etwas verstanden habe - klar, dass ihr Beispiel vermutlich nur eines von hunderten, äußerst raffinierten Funktionen ist.

Doch bei mir denke ich nüchtern, dass mir das herzlich egal ist. Das Wichtigste habe ich mir ohnehin gemerkt: Notfall – Roter Knopf.

Unsicher gehe ich auf die solide Tür zu, aus den Augenwinkeln sehe ich Onab hinter ihrem Schreibtisch mir unmerklich zu nicken, ein schriller Signalton ertönt und Iven legt diesmal nacheinander drei Finger auf den Scanner, schließlich gibt er mit fliegenden Händen eine Tastenkombination ein. Als die Tür lautlos aufschwingt bemerke ich, dass sie sehr viel dicker ist, als ich dachte. Dahinter offenbart sie einen überaus unscheinbaren graubetonierten Treppenaufstieg, der kaum zu dem aufwendigen Sicherheitsszenario passen mag. Ich werfe einen letzten Blick zurück auf die schlichte, braune Holztür, die sich unschuldig mit einem metallischen Klicken hinter uns schließt.

Dann blicke ich wieder geradeaus – der Freiheit entgegen.

Spares - Sag mir wer ich binWhere stories live. Discover now